- Artikel
- |
- Justus Lamm
- |
- 06.12.2024
Zwischen Kuscheltieren und Traubenzucker – Meine Famulatur in der Pädiatrie
Ob im Untersuchungskurs, im Blockpraktikum oder im Wahlfach – in der Uniklinik wird meist mit erwachsenen Patienten gearbeitet. Dass die Behandlung von Kindern jedoch ganz andere Fähigkeiten abverlangt, hat Lokalredakteur Justus in seiner Famulatur beim Kinderarzt gelernt.
Warum Pädiatrie?
Von der „U2“ bis zur „J2“ - Meine Kinderärztin hat mich durch die wichtigsten Entwicklungsschritte meines Lebens begleitet: Sie hörte meine ersten Worte, sah mich zu einem Jugendlichen heranwachsen und drückte mir sogar bei meiner Bewerbung fürs Medizinstudium die Daumen. Ihre Impfungen schützen mich vor schweren Erkrankungen und ihre Therapien halfen mir bei zahlreichen Infekten oder Verletzungen.
Nach meinem sechsten Semester beschloss ich daher, die Perspektive zu wechseln und meine Ferien für eine Famulatur in ihrer Praxis zu nutzen.
Der Arbeitsalltag
Als ich an meinem ersten Arbeitstag die Praxis betrat, wurde ich sofort in meine Kindheit zurückversetzt: das Windspiel über der Tür kündigte meine Ankunft mit derselben Melodie an, wie damals. Der mir bekannte Holzpapagei schwebte noch immer unter der Decke. Die Mitarbeiterinnen an der Anmeldung erkannten mich sofort wieder.
Doch es blieb keine Zeit für Nostalgie, denn die ersten Patient*innen saßen bereits im Wartezimmer. Schnell wechselte ich also in die lila Poloshirts der Praxis und begann mit der Arbeit.
Jeden Tag begleitete ich eine der vier Ärztinnen, sodass ich verschiedene Perspektiven, individuelle Ansätze und unterschiedlichste Behandlungsstrategien kennenlernte. Schon bald fanden wir eine gemeinsame Routine: stets begannen die Ärztinnen mit der Anamnese, ehe wir die körperliche Untersuchung gemeinsam durchführten. Im Nachhinein besprachen wir unsere Beobachtungen und einigten uns auf eine Therapie. Dabei wurde ich immer wieder mit kritischen Rückfragen zu meinen Überlegungen konfrontiert, durfte aber umgekehrt auch meine Fragen stellen – eine wertvolle Lernatmosphäre! Hier präsentiere ich einige lehrreiche Fallbeispiele:
Namen wurden redaktionell abgeändert und Patientendaten anonymisiert.
Das erkältete Mädchen
„Erkältungen sind mein täglich Brot“, erklärt mir Sonja schmunzelnd als wir gemeinsam die Karteikarte der nächsten Patientin lesen: Lisa ist eine Sechsjährige, deren Mutter nach siebentägigen subfebrilen Temperaturen und trockenem Husten um einen Akuttermin gebeten hatte. Ich schnappe mir mein Stethoskop und hole Lisa aus dem Wartezimmer. Immer wieder müssen wir das Abhören aufgrund von Hustenanfällen unterbrechen. Doch auch bei Ruheatmung kann ich kaum ein konkretes Geräusch identifizieren – schließlich erlöst mich Sonja: „Was du hörst sind mittelblasige Rasselgeräusche und ein exspiratorisches Giemen“, erklärt sie, „das ist charakteristisch für eine atypische Pneumonie, wie wir sie zur Zeit ungewöhnlich häufig aufgrund von Mykoplasmen sehen. Was würdest du nun verschreiben?“
In meinem Kopf gehe ich die Pharmakologie-Vorlesungen über Antibiotika durch. „Ich würde die Behandlung mit einem Makrolid versuchen, vielleicht Azithromycin?“, schlage ich vor. Augenscheinlich war meine Intuition korrekt, denn Sonja nickt.
„Ergänzend würde ich zudem Salbutamol empfehlen“, führt sie aus. Dann setzt sie sich an den Computer, um ein Rezept zu erstellen.
Das habe ich gelernt: Atemwegsinfekte sind eine häufige Erkrankung im Kindesalter. Die Auskultation ist bei Diagnose und Therapie meist wegweisend und sollte somit gut beherrscht werden.
Der mysteriöse Ausschlag
Als Elisabeth mich zu ihrem Patienten dazu holt, hat sie schon längt eine Verdachtsdiagnose im Kopf. Sie führt mich in das Behandlungszimmer und fasst ihre Anamnese für mich zusammen: „Luis war am Wochenende im Krankenhaus und hat dort Antibiotika erhalten. Da er vorgestern entlassen wurde, sollen wir nun die Verlaufskontrolle übernehmen. Er hat freundlicherweise zugestimmt, dass du ihn dir anschauen darfst.“
Während die Ärztin spricht, zeigt sie auf den Hals des Jungen. Ich erkenne mehrere rote Punkte, die die Haut des Kindes überziehen. Als Luis sein T-Shirt auszieht, bemerke ich, dass sich der Ausschlag sogar über den gesamten Oberkörper ausgebreitet hat. Elisabeth schaut mich erwartungsvoll an, daher beschreibe ich zunächst den Befund: „Ich würde diesen Ausschlag als ein makulopapulöses, kleinfleckiges, stammbetones Exanthem klassifizieren“.
Elisabeth ergänzt meine Ausführung: „Was du hier richtig beschrieben hast, ist die typische Morphologie eines Ampicillin-Exanthems, das als reguläre Nebenwirkung dieses Antibiotikums auftreten kann. Glücklicherweise ist heute der letzte Tag seiner Antibiose erreicht, sodass wir den weiteren Verlauf abwarten können.“
Das habe ich gelernt: Jedes Medikament kann Nebenwirkungen hervorrufen. Daher sollten wir stets individuell abwägen, ob eine medikamentöse Therapie überhaupt notwendig ist. Gerade bei kleinen Patient*innen gilt bezüglich Indikationsstellung und Dosierung besondere Vorsicht!
Das Mädchen mit dem Splitter
„Justus, wir brauchen dich!“, höre ich Moni durch die Praxis rufen. Ich folge ihrer Stimme in das Behandlungszimmer. Sie sitzt auf einem Hocker, ein kleines Mädchen, vielleicht fünf Jahre alt, vor ihr. Das Kind hält sich den nackten Fuß und schluchzt vor Schmerzen.
„Marie hat sich am Wochenende einen Spreißel an der Fußsohle zugezogen“, klärt Moni mich auf, „damit ich ihn entfernen kann, musst du ihr Bein festhalten, da es kurz wehtun wird.“
Moni stellt mich dem Mädchen vor und erklärt, was wir machen werden. Sie wartet, bis sich das Kind beruhigt und unserem Vorgehen zugestimmt hat.
Während ich Maries Bein festhalte, zieht die Ärztin den Splitter behutsam mit einer Pinzette aus dem Fuß. Marie zuckt kurz zusammen, dann ist der kleine Eingriff schon vorbei.
Das habe ich gelernt: Gespräche auf Augenhöhe und ein geduldiges Erklären von Unklarheiten können Kinder meist beruhigen. Ehrliche Kommunikation ist dabei genauso wichtig wie bei Erwachsenen – falsche Versprechungen (z.B. „das tut doch gar nicht weh“) sollten unbedingt vermieden werden!
Der Junge mit der Sprachstörung
Philipp wurde von seinem Kinderarzt zu Anja geschickt. Als Kinderneurologin springt sie nämlich immer dann ein, wenn ihre Kolleg*innen nicht mehr weiter wissen. Sie wird daher oft mit rätselhaften Symptomen, verzweifelten Eltern und schwerkranken Kindern konfrontiert – ein herausfordernder Beruf!
Im Gespräch wird uns schnell klar, warum Philipp die Hilfe einer Neurologin benötigt: als er vorletzte Woche starke Kopfschmerzen hatte, konnte er nicht mehr richtig sprechen. Auf dem Weg zu seiner Mutter verlor er dann das Gleichgewicht und stürzte, woraufhin diese den Notruf wählte.
Sofort überschlagen sich meine Gedanken: Könnte ein Schlaganfall vorliegen? Oder ein erhöhter Hirndruck… vielleicht aufgrund einer Raumforderung? – beunruhigt gehe ich zahlreiche infauste Diagnosen durch.
Währenddessen unterhält Anja sich entspannt und gelassen mit dem Kind. Sie führt einige neurologische Testungen durch. Dann ist ihr klar, mit welcher Erkrankung sie es hier zu tun hat: „Was du schilderst, hört sich nach einer Migräne an“, erklärt sie Philipp – Erleichterung macht sich in mir breit!
Das habe ich gelernt: Auch bei schweren Verdachtsdiagnosen gilt es, Ruhe zu bewahren – Kinder sind sehr sensibel für die Emotionen ihres Gegenübers! Die Sorgen und Wünsche der Eltern dürfen natürlich ebenfalls nicht vergessen werden.
Mein Fazit
Rückblickend war meine Famulatur in einer pädiatrischen Praxis eine wertvolle und bereichernde Erfahrung:
Ob Infektionen, traumatische Verletzungen, chronische Erkrankungen oder psychische Beschwerden – Pädiater*innen beweisen täglich eine breite medizinische Kompetenz. Gleichzeitig sind sie einfühlsame Begleiter*innen, die verständnisvoll auf die emotionalen Bedürfnisse ihrer Patient*innen (und deren Familien) eingehen.
Dabei liegt ihre Stärke nicht nur in der Heilung, sondern oftmals auch darin, die Selbstwirksamkeitserwartung ihrer Patient*innen zu fördern, Beschwerden durch symptomatische Therapien zu lindern und Eltern wie Kinder umfassend über medizinische Hintergründe aufzuklären.
Diese Verbindung aus fachlicher Exzellenz und emotionaler Sensibilität macht Pädiater*innen zu außergewöhnlichen Ärzt*innen: sie leisten täglich ganz Großes für die Allerkleinsten!