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  • 10.06.2013
  • Pillen in Hand - Foto: Fotolia / Picasa 2.7

    Ein Cocktail an Pillen, aber nichts hilft.

     

Teil 4: Schicksalhafte Milieuschädigung

Kurz vor Feierabend stellt sich der Famulatin Carolin und ihrem zugeteilten Obrarzt Dr. Brunner eine wutentbrannte Patientin vor. Eigentlich hat Carolin heute keine Lust mehr auf eine "Drama Queen", doch als die junge Frau erzählt, dass ihr bisher kein Arzt helfen konnte, wird sie hellhörig.

Jeder Medizinstudent weiß um das pH-Optimum des menschlichen Stoffwechsels. Im folgenden Fall geht es jedoch nicht um respiratorische oder metabolische Entgleisungen mit dramatischen Szenen auf der Intensivstation. Es geht um die Diagnose einer jungen Frau. Ich lernte sie während einer Famulatur in der Gynäkologie als Patientin kennen. Zu diesem Zeitpunkt träumte ich von einer Laufbahn in der Neurochirurgie. Doch leider hatte ich dort keinen Platz als Famulantin bekommen und nahm zähneknirschend das Angebot aus der Gyn an. Mittlerweile bin ich im letzten Semester und eines ist sicher: Ich werde Gynäkologin. Immer mal wieder kommt mir dieser Tag, der meine beruflichen Ziele auf den Kopf stellte, ins Gedächtnis.

Es war ein warmer und sonniger Frühlingstag. Tulpen, Narzissen und üppige Magnolienbäume prahlten mit ihrer verschwenderischen Farbenpracht. Patienten und Besucher flanierten wohlgelaunt im Klinikpark umher und eine Schar munter plaudernder Weißkittel zog Richtung Kiosk. In der Ambulanz lief es wie am Schnürchen. Ich war Dr. Brunner, einem älteren Oberarzt zuteilt. "Der alte Haudegen" so nannte man ihn in der Klinik. Er war sehr nett zu mir, erklärte mir vieles und ließ mich, da wo es möglich war, erste Handgriffe selbstständig durchführen. Das stimmte mich einigermaßen zufrieden. Gegen Mittag bat ich die letzte Patientin ins Sprechzimmer. Sie saß in der hinteren Ecke des Wartebereiches, war ungefähr Mitte zwanzig, klein und zierlich und sie hatte ein ernstes Gesicht. Als ich den Raum betrat, stieß mir der Geruch von "White blossom", einem teuren Designerparfum, unangenehm heftig in die Nase. Und auch während des ersten Gespräches mit der Patientin drängte sich "White blossom" aufdringlich zwischen meine Gedanken.

Viele Medikamente, keine Besserung

Dr. Brunner studierte ihre Unterlagen, stellte ihr die üblichen Fragen: Menstruationszyklus, Schwangerschaften und so weiter. Ich hoffte, wir würden bald mit der Untersuchung beginnen, denn ich glaubte bereits "White blossom" im Mund zu schmecken und außerdem waren diese Vorgespräche für mich wenig aufregend. Wie viel mehr hätte doch die Neurochirurgie zu bieten gehabt! Das Gespräch zwischen Arzt und Patientin war derweil ins Stocken geraten. Die Patientin berichtete nur zögerlich und mit aggressivem Unterton, dass sie eine Geschlechtskrankheit habe und ihr bisheriger Gynäkologe ihr bereits sechs unterschiedliche Antibiotika verschrieben habe. Die Symptome seien allerdings immer noch da. Aufgeregt und mit zittrigen Händen kramte sie in ihrer Tasche und knallte mit der flachen Hand einen Zettel auf den Tisch. Darauf hatte sie alle Präparate mit Dosierung und Darreichungsform fein säuberlich aufgelistet.

Plötzlich stand sie auf, schaute erst mich, dann Dr. Brunner mit blitzenden Augen an und sagte: "Und wenn sie von solchen Krankheiten nichts verstehen, dann sagen sie das bitte sofort. Wissen Sie", ihre Stimme wurde leiser und der Ton ruhiger, "das geht schon seit 13 Monaten so und ich kann bald nicht mehr. Ich halte das nicht mehr aus. Ich brauche keine Gesprächstherapie sondern einen Experten. Mein bisheriger Gynäkologe meinte, ich hätte eine Mischinfektion und wahrscheinlich auch eine Meise. Kennen Sie sich mit Geschlechtskrankheiten aus?" Sie stand wie zum Schutz hinter ihrem Sessel, grub ihre Hände fest in die Armlehnen und schaute uns abwechselnd an. Der alte Haudegen schwieg. Sein sowieso freundliches Gesicht wirkte väterlich sorgenvoll. "Bevor ich Sie untersuche, möchte ich noch einmal zusammenfassen: Bei Ihnen wurde vor 13 Monaten eine Geschlechtskrankheit diagnostiziert. Sie hatten bis vor 6 Monaten einen festen Lebenspartner und leben seither allein. Sie haben eine normalen Menstruationszyklus, jedoch mit starken Blutungen. Bei der Geschlechtskrankheit soll es sich um eine Mischinfektion handeln. Dagegen haben Sie eine stattliche Menge an Antibiotika erhalten, die sie gemäß Anweisung eingenommen haben. Doch ihre Symptome sind geblieben. Sie hatten nie Schmerzen, keinen Juckreiz oder Brennen, aber einen weißlichen Fluor, der, so nehme ich an, äußerst unschön riecht."

Als er die letzten Worte ausgesprochen hatte, setzte sie sich langsam wieder hin und sank nahezu erschöpft in sich zusammen. Sie schaute auf den Boden und weinte leise vor sich hin. Dr. Brunner lächelte: "Ihren Unterlagen entnehme ich, dass Sie Jura studieren. Damit Sie mich nicht vor den Kadi zerren, möchte ich Sie an dieser Stelle wissen lassen, dass gynäkologische Infektionen mein Steckenpferd sind. Sollte also der Fall eintreten, dass ich keine Ahnung habe, was Ihnen fehlt, so werde ich Ihnen das unverzüglich mitteilen. Im ersten Schritt werde ich einen kleinen Test durchführen und ich bin nahezu sicher, dass wir dann schon etwas wissen. Eine Meise hingegen haben Sie auf keinen Fall, das würde ich Ihnen bereits jetzt attestieren."

 

Dem Rätsel auf der Spur

Ich hatte nicht die geringste Ahnung, worum es hier gehen sollte. Eine Mischinfektion? Ja, das gab es - sogar sehr oft, doch so symptomlos? Und eigentlich zählen Jurastudentinnen nicht unbedingt zu den Risikopatienten. Ich war gespannt wie Dr. Brunner diesen Fall mit einem einzigen Test klären wollte und ich zweifelte an der Korrektheit seiner Aussage. Dabei war gerade er am wenigsten der Typ, der Patientinnen nicht die Wahrheit sagte. Als erstes überprüfte es den pH des Scheidenmilieus: 5,2. Er schaute mich herausfordernd an. "Zu alkalisch", folgerte ich glücklicherweise richtig. Während der Untersuchung gesellte sich zu "White blossom" ein unangenehm stechender, fischiger Geruch. Und als Dr. Brunner nur einen kleinen Teil des weißlichen Fluors mit 10 prozentiger Kalilauge mischte, entwickelte sich daraus ein derartiger Gestank, dass ich würgen musste. Nach der Untersuchung erklärte er den Sachverhalt. Aminvaginose, so lautete seine Diagnose. Er verglich dies mit einem umgekippten See, in dem kein biologisches Gleichgewicht mehr herrscht. "Die Laktobazillen, die für die normale Scheidenflora verantwortlich sind, wurden verdrängt und so kamen Anaerobier und als Hauptverursacher ein Keim namens Gardnerella vaginalis zum Zuge. Der braucht zum Überleben Eisen und das haben Sie ihm mit der starken Blutung geboten. Dieser Keim produziert dann Amine, die für den Geruch verantwortlich sind. Mit einer Geschlechtskrankheit hat das allerdings absolut gar nichts zu tun!"

Die Therapie bestand in einer Eradikation der Anaerobier mittels Metronidazol. Gardnerella hingegen kann nur mit einem wiederhergestellten normalen Milieu der Garaus gemacht werden. Dies gelang mit einem oralen Kontrazeptivum zur Regulation der Menstruation und einem Milchsäurepräparat zur Unterstützung des lokalen Milieus. Gleichzeitig wurde die Patientin angehalten, eine ganz normale Genitalhygiene unter Verzicht auf jegliche Spezialprodukte zu betreiben. Während Dr. Brunner der Patientin Diagnose und Therapie erläuterte, weinte sie bitterlich. "Paul" so flüsterte sie, "ich habe mich von Paul getrennt, weil ich dachte, er hätte mich betrogen und belogen und dann auch noch mit einer Geschlechtskrankheit angesteckt. Und er hat mir misstraut und hat mir Vorwürfe gemacht. Wir wollten in diesem Sommer heiraten, aber nun lebt er in den USA. Und jetzt kommen Sie und erzählen mir was von biologischem Gleichgewicht."

Nicht nur eine Diagnose

Ihr Weinen ging in ein herzzerreißendes Schluchzen über. So saßen wir eine ganze Weile da. Bald versiegten ihre Tränen. "Ich bete, dass Sie Recht haben, denn dann könnte ich wieder unter Menschen gehen und auch mein Studium beenden, denn wissen Sie, ich kann mich selbst nicht mehr riechen und ich bin so einsam." Natürlich behielt der alte Haudegen Recht. Das erfuhr ich einige Wochen später, als ich ihn noch einmal aufsuchte, um einen Termin für meine nächste Famulatur abzusprechen.Mir machte dieser Fall klar, dass eine Diagnose mehr ist als die Summe von Laboranalysen und Untersuchungsergebnissen. Sie stellt möglicherweise die Weichen im Leben eines Patienten.

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