- Klinikgeschichten
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- cand. med.
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- 09.01.2014
Teil 6: Die erste Diagnose
Carolin und ihre Freundin Melli sind aufgeregt. Heute dürfen sie zum ersten Mal im Uniklinikum eine Patientin untersuchen. Zunächst finden sie keine auffälligen Befunde, doch als sie die Blutdruckmanschette aufpumpen, entgleitet ihnen die Dame ...
Foto: Fotolia/robocity
Das Physikum ist ein wahrer Meilenstein im Medizinstudium. Es öffnet das verheißungsvolle Tor zur klinischen Medizin. Ich erinnere mich noch sehr genau an meinem ersten Tag im klinischen Semester: Meine Freundin Melli und ich trafen uns vor dem imposanten Portal der Universitätsklinik. Feierlich hakten wir uns bei einander ein und schritten fröhlich kichernd dem neuen Abschnitt entgegen. Noch ahnten wir nicht, dass wir an diesem Tag eine maßgebliche Diagnose stellen sollten.
Der Oberarzt unseres Neuro-Kurses schien gestresst und ihm war in erster Linie daran gelegen, uns schnell wieder los zu werden. Melli und ich blieben als Team zusammen und bekamen eine 76-jährige Patientin mit Schwindelattacken zugeteilt. „Die Dame hat nichts Akutes und wir haben auch noch keine Diagnose. Ihr könnt sie einfach mal untersuchen,“ sagte der Oberarzt und entschwand. „Und jetzt?“ fragte ich ratlos. „Jetzt werden wir diese Dame einfach mal lege artis untersuchen,“ sagte Melli und ihre Augen blitzten vor Tatendrang.
Woran leidet Frau Hermann?
Frau Hermann machte einen muntern Eindruck. Sie saß aufrecht in ihrem Bett und strickte eine bunte Kindersocke. Das lange Haar hatte sie zu einer altmodischen Frisur hochgezwirbelt. „Natürlich können sie mich untersuchen“, erwiderte sie unserer vorsichtigen Frage. „Das bringt mir eine nette Abwechslung. Krank bin ich ja eigentlich nicht. Meine Tochter möchte nur, dass ich die Sache mit dem Schwindel mal abklären lasse.“ Wir begannen mit der Anamnese. Am Ende angekommen, stellten wir fest, dass vor uns ein vitale ältere Dame saß, die bis auf eine Kniearthrose und eine Appendektomie in jungen Jahren nicht viel zu bieten hatte.
Und der Schwindel? „Ja, den habe ich immer morgens und in der letzten Zeit kam er auch mal zwischendurch. Und manchmal kann ich nicht so gut sehen und es brummt auch schon mal in den Ohren. Aber das ist nur vorübergehend“, sagte sie lächelnd und setzte sich erwartungsvoll auf die Bettkante. Wir überprüften die Hirnnerven, gingen über zu den Reflexen, checkten den Kinn-Jugulum-Abstand bei Reklination, Inklination, Rotation und Lateralflexion und ließen uns den Armhalteversuch vorführen. Als wir alles durch hatten und sich die „ohne-Befund-Kürzel“ auf unserem Anamnesebogen häuften, wollten wir abschließend noch den Blutdruck messen.
Seltsame Blutdruckwerte
Melli legte der Patientin dazu die Manschette an und pumpte sie kräftig auf. Es dauerte eine Weile, bis sie ihr Stethoskop richtig platziert hatte. Gerade als sie anfing, den Druck abzulassen, wurde Frau Hermann plötzlich kreidebleich und sank mit den Worten „mir wird schwindelig“ in die Kissen. Auch mir wurde schwindelig. Ich merkte, wie mir vor Angst das Blut in die Füße absackte. Melli hatte noch die Stethoskop-Oliven in den Ohren und starrte mit offenem Mund erst die Patientin, dann mich an. Noch bevor wir in irgendeiner Form reagieren konnten, hörten wir eine freundliche Stimme sagen: „Sie müssen sich nicht aufregen. Sie können jetzt weiter machen.“ Es war die Stimme unserer Patientin. Als sich der Schreck gelegt hatte, reichte mir Melli die Blutdruck-Manschette auf meine Seite des Bettes herüber. „Ich habe 150/110 gemessen. Ich glaube, das stimmt nicht. Außerdem ist ihr Arm gerade durch das Stauen heiß und rot. Miss du mal auf deiner Seite.“ Mein Ergebnis war 120/80. „Jetzt will ich’s aber genau wissen“, sagte Melli. „Gib mir noch mal die Manschette.“ Und dann passierte es wieder. Wie ein Dejà vu. Frau Hermann sank mit denselben Worten in die Kissen, erholte sich schnell und Melli maß ein weiteres Mal einen sehr hohen Wert. Auch meinen niedrigeren Wert konnte ich ein zweites Mal messen.
Wir waren uns einig, dass hier etwas nicht stimmte. „Entweder wir sind zu doof zum Blutdruckmessen oder …“ „Oder wir haben eine Seitendifferenz,“ fiel mir Melli ins Wort. Noch einmal schauten wir unseren Anamnesebogen durch. Anamnese und Untersuchung sind blande oder... “ „Oder wir haben etwas übersehen,“ vervollständigte ich nun Mellis Gedanken. Wir ließen uns noch einmal im Detail von den Schwindelattacken berichten. So erfuhren wir, dass Frau Herrmann diese morgens oft beim Frisieren hatte und mehrfach während des Hausputzes, den sie während der letzten zwei Wochen zelebriert hatte. Meist bei Überkopfarbeiten wie Fensterputzen und Gardinen aufhängen.
Später suchten wir uns ein ruhiges Plätzchen in der Bibliothek und trugen alles zusammen. Die Hauptsymptome waren die Blutdruckseitendifferenz, passagere Sehstörungen, Ohrgeräusche und die Tatsache, dass wir mit dem Aufpumpen der Blutdruckmanschette auf der linken Patientenseite eine Schwindelattacke provozieren konnten. Irgendwann dämmerte es uns. Das war kein neurologischer Fall. Die Patientin hatte ein Subclavian-Steal-Syndrom. Ein wahrscheinlich atherosklerotischer Verschluss der A. subclavia vor dem Abgang der A. vertebralis verursachte eine Strömungsumkehr des arteriellen Blutflusses mit der Folge einer Unterversorgung des basilären Endstromgebietes. Dies erklärte die Symptomatik. Die mehr oder weniger zufällig durchgeführte Diagnostik untermauertet unsere Theorie.
Beklemmende Stille beim Abschlussgespräch
Als wir im oberärztlichen Abschlussgespräch als einzige Gruppe eine Diagnose verkündeten und dazu noch eine nicht-neurologische, herrschte eine beklemmende Stille im Seminarraum. Auch der Oberarzt schwieg. Irgendwann sagte er „Sie hatten eine Spur und sind ihr nachgegangen. Sie haben gute Argumente gefunden und dass mit einfachsten Hilfsmitteln. Werte Kolleginnen, Sie haben richtige Medizin praktiziert.“
Eine Woche später, als wir wieder zum Bedside-Kurs antraten, erfuhren wir, dass unsere Diagnose mittels einer Duplexsonographie und einer Angiographie bestätigt worden war. Frau Hermann hatte vorerst von einer Intervention in Form einer Ballondilatation abgesehen. Sie war mit der ursächlichen Erklärung für ihre Symptome zufrieden.
Mittlerweile trennen Melli und mich drei Semester vom Physikum und eine gefühlte Ewigkeit von diesem medizinischen Höhenflug. Doch wann immer wir im tiefen Tal der Mutlosigkeit sitzen, hilft uns dieser eine Satz: „Werte Kolleginnen, Sie haben richtige Medizin praktiziert.“