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  • Text und Foto Beyza Saritas
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  • 19.12.2022

Ein Semester über Menschlichkeit

Beyza hat während ihres Einsatzes in der Neuropädiatrie viel Leid gesehen. Die Patientenschicksale berühren sie und zeigen ihr, wie vulnerabel das Leben ist.

Foto: Dilara Kaplan, Lorena Soßna, Elif Beyza Saritas (von l. nach r.)

Mein vorletztes Semester an der Uni ist angebrochen. Verrückt! Gefühlt saß ich gestern noch in meiner ersten Vorlesung und plötzlich stehen dem Arztsein quasi “nur” noch drei Klausuren, zwei Staatsexamina und ein Praktisches Jahr im Weg. Auch wenn kaum absehbar ist, was das letzte Semester an der Uni für mich bereithält, werde ich mein neuntes Semester immer dankbar in Erinnerung behalten.
Wahrscheinlich denkt ihr, ich rede über ein Semester mit lehrreichen Vorlesungen, Seminaren oder Praktika. Nein, ich rede über ein Semester der Menschlichkeit.

Schon seit meinem ersten Semester höre ich, dass wir Medizinstudierende Dinge nicht zu sehr ans uns heranlassen sollen. Das mag auch irgendwo seine Berechtigung haben, denn schließlich muss man Privat- und Berufsleben trennen können, sollte es jedenfalls. Und dennoch: Ich würde lügen, wenn ich sage, dass ich über all das, was ich sehe, nicht mehr nachdenke, sobald ich einen Fuß aus der Klinik gesetzt habe. Ich jedenfalls habe die entsprechende „Delete“-Taste in meinem Gehirn noch nicht gefunden. Aber will ich das überhaupt?

Solche und ähnliche Gedanken schwirren mir nach einem meiner Praxisblöcke, genauer gesagt nach einer Woche in der Neuropädiatrie, im Kopf herum. Hier treffe ich auf Patientenschicksale, die mich mitten ins Herz treffen. Teils unheilbare Erkrankungen, teils dramatische Schicksale. Kinder, die noch gestern mitten im Leben standen und heute aus diesem gerissen werden. Eltern, denen die Hilflosigkeit und Stärke in den müden Augen geschrieben steht.

Ich will keinem predigen, dankbarer über sein Leben zu sein, aber Patientenschicksale wie diese berühren mich. Auch wenn der ein oder andere Mediziner dies als Schwäche deuten mag, bin ich froh, dass mir solche Schicksale nicht egal sind. Sie erinnern mich daran, dass ich auch nur ein Mensch bin. Die Menschen, die wir als Patienten bezeichnen, sind Väter und Mütter, Brüder und Schwestern, Omas und Opas, Enkel und Enkelinnen von jemandem. Diese Menschen sind wie wir, auch wenn wir versuchen, uns hiervon zu distanzieren, indem wir sie in die Schublade „Patient“ stecken. Solche Patientenschicksale sind keine Märchen oder Fabeln, sondern Momente aus dem wahren Leben.

Ich habe dieses Semester, bestehend aus den beiden Studien- und Praxisblöcken “Grenzsituationen ärztlichen Handelns” und “Lebensphasen”, unter anderem Assistenz- und Fachärzte in der Anästhesie gesehen, denen die Hände bei einer Intubation oder dem Durchführen einer Periduralanästhesie gezittert haben. Zugegebenermaßen habe auch ich anfangs geurteilt und habe mich gefragt, wie es sein kann, dass ein Assistenzarzt oder eine Fachärztin hierbei so unsicher wirken. Eine Ärztin versuchte es einmal, zweimal, aber der Periduralkatheter wollte nicht liegen. Dann wurde der Oberarzt dazu gerufen und zack, das Ding war drin. “Das geht doch einfach, ich weiß gar nicht, was du falsch machst”, sagte er leicht herabfällig zu ihr und verschwand wieder. Aber war er nicht auch irgendwann einmal ein unerfahrener Arzt, der einfach Angst hatte, zu versagen? Viel zu oft vergessen wir, wo wir einmal begonnen haben und wo wir am Anfang des Weges standen. Wir sollten Ärzten erlauben, menschlicher zu sein.

Dieses Semester habe ich auf der Palliativmedizin gesehen, wie ein Mensch gestorben ist, und erlebt, wie das Einzige, was man medizinisch noch tun konnte, Leidenslinderung ist. Ich habe beobachtet, wie die Tochter einer Patientin nichts mehr für ihre Mutter tun konnte, als ihre Hand zu halten und für sie da zu sein. Währenddessen saß ich auf der Couch im selben Raum, habe mich wie im falschen Film gefühlt, zugesehen, wie das Blut der Patientin zentralisiert, ihre Atmung flacher wird und sie aus dem Leben scheidet. Während einer Obduktion habe ich nach langer Zeit wieder einen toten Menschen berühren und auf den Tod hin untersuchen dürfen. Das sind Momente, die sich in mein Gehirn brennen, Momente, die ich nicht vergessen will und möchte. Momente, die viel zu bedeutsam sind, um sie mit einem einfachen “Delete” aus meinem Gehirn zu löschen. Momente, die mich daran erinnern, dass auch ich nur aus Fleisch und Blut bestehe, genauso vulnerabel bin, wie unsere Patienten.

Vielleicht bin ich damit allein, aber ich will keine Angst davor haben müssen, Fehler zu machen, möchte Patienten nicht als gefühlloser Roboter begegnen. Errare humanum est, oder nicht? Damit möchte ich keinesfalls implizieren, dass man die Arbeit mit und am Menschen auf die leichte Schulter nimmt – diesen Eindruck hat sich mir bisher noch nie gezeigt. Die allermeisten Mediziner sind sich ihrer großen Verantwortung bewusst, aber die Unerfahrenheit, die man aus dem Studium mit ins Berufsleben mitbringt, verschwindet eben auch nicht von heute auf morgen.

Unerfahren und unsicher wollte ich dieses Semester bei der Lagerung für eine Nierentransplantation helfen, obwohl ich keine Ahnung hatte, denn alles ist besser, als einfach herumzustehen. „Ich bin nur Studentin und weiß nicht, wie das richtig geht.“, musste ich dann zugeben. Schmunzelnd sagte eine OTA zu mir: „Nur Studentin? Mach es so, wie du es auch gerne hättest. Folg deinem Bauchgefühl, dann ist es meistens richtig.“ Letzten Endes sind wir Medizinstudierende und Ärzte auch nur Menschen, die anderen Menschen helfen wollen. Das muss keine Heilung sein, denn wir können nicht die Welt retten. Aber wir können Leiden lindern, mit den Menschen, unseren Patienten, mitfühlen, und manchmal wenigstens der Funke Hoffnung oder der Grund für das kleine, unscheinbare Lächeln sein, dass für diese Menschen manchmal mehr bedeutet, als man denkt. Manchmal können wir nur ausharren, niemals aber vollständig verstehen, wie es den Patienten geht. Aber wir können es versuchen, das sollte unser Anspruch sein. Letztens Endes sind wir (angehenden) Ärzte aber auch nur Menschen. Menschen, die schlechte Tage haben. Menschen, die Fehler machen. Menschen, die auch nur Gefühle haben und denen ihre Patienten nicht egal sind. Am Ende des Tages bleibt uns nur unsere Menschlichkeit, und wenn wir diese verlieren, haben wir alles verloren.

 

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