- Artikel
- |
- Beyza Saritas
- |
- 10.01.2025
Über den Wolken: Notfallversorgung im Flugzeug
„Ist ein Arzt an Board?“ Beyza ist frisch approbierte Ärztin, als sie auf dem Rückflug aus ihrem Urlaub mit dieser Frage konfrontiert wird.
Das Medizinstudium ist vorbei, die Approbation eingeflattert: Nach meinem langersehnten Urlaub in die Heimat meiner Eltern lasse ich mich in den Flugzeugsessel fallen, um zurück nach Hause zu fliegen. Ein vier Stunden Flug nach Deutschland, in dem ich vorhabe zu lesen, Filme zu schauen und vor allem eines nicht zu tun: An Medizin denken. Schon einige Minuten nach dem Abflug döse ich friedlich ein. Plötzlich weckt mich meine Mutter, die neben mir sitzt. Als ich auf die Uhr schaue, sehe ich, dass erst eine knappe Stunde vergangen ist, seitdem wir abgeflogen sind. Ich höre noch im Halbschlaf eine Durchsage: „Wegen eines Notfalls werden anwesende Ärzte und medizinisches Personal gebeten, sich vorne beim Kabinenpersonal zu melden“. Während ich merke, dass es weiter vorne in der Flugzeugkabine unruhig wird, lässt die Durchsage mich zusammenzucken. Ich bin hellwach, als mir bewusstwird, dass ich mich als Ärztin nun nach vorne begeben muss.
Während das Adrenalin durch meinen Körper schießt, eile ich schnellen Schrittes den Flugzeuggang nach vorne. Der Blick geht nach rechts, nach links, vorne und hinten. Keiner steht auf. Warum steht keiner auf? Innerlich bete ich, dass im Flugzeug zufällig noch weitere, erfahrenere Ärzte und Ärztinnen als ich sitzen. In diesem Airbus A320 sitzen 186 Menschen. Einer davon wird wohl mehr Erfahrung als ich haben, oder? Auch, wenn ich mehr als sechs Jahre Medizin studiert habe, im Praktischen Jahr zwar eigenständig, aber größtenteils unter Supervision und mit Rücksprachen gearbeitet habe, fühle ich mich unvorbereitet auf diese Situation. Was macht man bei einem medizinischen Notfall an Board? Im Kopf gehe ich alle Notfälle durch, die mich potenziell erwarten könnten.
Was mache ich, wenn der Patient einen Herzinfarkt hat, was bei einem Schlaganfall? Gut, dass ich vor kurzem das dritte Staatsexamen hatte, denke ich mir. Dennoch ist dies nur ein kleiner Trost, denn Theorie und Praxis sind bekannterweise zweierlei Dinge. Ich bin fast vorne angekommen, als ich sehe, dass eine weitere, jedoch hochschwangere Frau neben einem Steward steht und höre, dass sie Krankenschwester in Ausbildung sei. Ich stelle mich vor. Frische Ärztin, vor drei Wochen das Studium beendet. „Perfekt, perfekt! Kommen Sie bitte!“ In diesem Moment wird mir klar, dass ich die einzige Ärztin an Board bin.
Eine Stewardess, der ein ganzer Fels von Herzen zu fallen scheint, fragt nach meinem Arztausweis und bringt mich zu der Patientin. In der dritten Reihe des Flugzeugs sehe ich eine fahle, blasse, am ganzen Körper zitternde Patientin. „Sagen Sie Bescheid, falls Sie etwas brauchen, ich bringe Ihnen sofort Blutdruckmanschette und Stethoskop“ sagt sie, und verschwindet aus meinem Sichtfeld. Und dann bin ich plötzlich alleine verantwortlich für eine ältere, multimorbide, kardiovaskulär vorerkrankte Patientin. Meine erste, eigene Patientin hätte ich mir niemals in diesem Setting vorgestellt. Ich schlucke. Selten habe ich mich so überfordert gefühlt.
Ich stelle mich vor und frage die Angehörigen, die um mich herumstehen, was genau passiert ist. Genau wissen sie auch nicht, der Patientin gehe es nicht gut und sie fühle sich unwohl. Sie sei vor zwei Tagen bereits in der Notaufnahme gewesen. Währenddessen ruft jemand „Frau Doktor, hier“ und drückt mir ein Stethoskop mit Blutdruckmanschette in die Hand. Ich versuche mich zu sammeln und das Durcheinander in meinem Kopf zu ordnen. Begriffe wie Myokardinfarkt, Apoplex, qSOFA-Score, ABCDE-Schema spuken in meinem Kopf herum. Ich frage alles ab, was mir einfällt, ziemlich durcheinander und nach Bauchgefühl. Dabei versuche ich ruhig und zuversichtlich zu bleiben, denn um mich herum herrscht bereits Chaos. Medikamente, Vorerkrankungen, Vorbefunde. Ich sammle die für mich wichtigen Informationen. Währenddessen messe ich den Blutdruck. Der Puls ist so schwach, dass ich diesen kaum tasten kann. Die schwangere Krankenschwester reicht mir ihre Apple Watch, mit der wir am anderen Handgelenk zusätzlich den Puls messen.
„Sollen wir in Istanbul notlanden? Die Pilotin fragt nach Ihrer Einschätzung“, werde ich mit gesenkter Stimme gefragt. Nun verstehe ich zum ersten Mal, wie wahnsinnig krass, aber auch verdammt einschüchternd es sich wirklich anfühlt, alleine die Verantwortung für einen Patienten zu tragen. Ich überlasse die Entscheidung der Pilotin, schätze aber die Patientin als stabil genug ein, den weiteren Flug zu überstehen. Wir befinden uns tausende Meter in der Luft und es würde mindestens eine halbe bis ganze Stunde dauern, bis wir Hilfe auf festem Boden erhalten würden. Hoffentlich treffe ich damit die richtige Entscheidung, denke ich, und versuche keinen Gedanken daran zu verschwenden, was passiert, wenn die Patientin sich rapide verschlechtern sollte. Die Stewardess schaut regelmäßig vorbei, ob ich die Situation unter Kontrolle habe, und berichtet den Piloten. Zum Glück spreche ich fließend Türkisch, sonst wäre ich aufgeschmissen, schießt es mir in den Kopf.
Nie war ich so froh, vor kurzem ein medizinisches Staatsexamen gehabt zu haben und ein Gehirn voller frischer Informationen. Die Symptome der Patientin behandle ich konservativ in bestem Wissen und Gewissen. Hierunter bessern sich glücklicherweise ihre Beschwerden. Akute Notfälle versuche ich mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln möglichst auszuschließen. Noch zwei Stunden bis zur Landung. Der Patientin geht es schon besser, sie ist nun entsprechend gelagert und versorgt. Zwischendurch muss ich ein Medical Incident Report ausfüllen, meine Daten angeben und nennen, was ich genau getan habe. Ich nehme wieder Platz in meinem Flugzeugsessel und schaue regelmäßig nach dem Zustand der Patientin. Als das Flugzeug deutschen Boden berührt, kann ich nach Stunden wieder durchatmen. Meine Patientin übergebe ich in stabilem Allgemeinzustand der Familie, die sie nun zeitnah ins Krankenhaus bringt.
Das Adrenalin ebbt erst ab, nachdem sich Familie und Crew bei mir bedankt haben. In den Gesichtern ist deutlich zu erkennen, wie erleichtert wir alle sind, dass alles gut gegangen ist. Dennoch beschäftigt mich das Geschehene auch einige Tage weiter. Was hätte ich anders, oder gar besser machen können? Wie geht es der Patientin nun? Fragen, auf die ich keine Antwort kenne. Studien zeigen, dass medizinische Notfälle an Board bei einem Notfall pro 10.000 bis 40.000 Passagieren passieren. Die Wahrscheinlichkeit, dass mir solch ein Notfall als frisch approbierte Ärztin begegnet, geht vermutlich gegen Null. Dennoch weiß ich nun, dass egal wie unsicher man sich fühlt, das Wissen dennoch irgendwie genügt, um im Ernstfall zu helfen. Man muss nur irgendwo anfangen.
Pressespiegel
15.05.2025 - SpektrumSchimpansen behandeln Wunden anderer mit Medizin
12.05.2025 - SpektrumIst Melatonin tatsächlich wirkungslos und gefährlich?
24.04.2025 - SpektrumWarum nachts aufwachen nicht schlimm ist