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  • Beyza Saritas
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  • 14.07.2022

Warum das Medizinstudium keine Mediziner*innen aus uns macht

Beyza ist in den letzten Zügen ihres Medizistudiums. In zwei Jahren ist sie fertige Ärztin. Theoretisch jedenfalls. Denn praktisch fühlt sie sich auf die ärztlichen Tätigkeiten überhaupt nicht vorbereitet und sorgt sich, wie sie im Klinikalltag zurechtkommen soll.

 

 

Bald studiere ich im 9. Semester Medizin. Fünftes Studienjahr. Während ich das Studium bisher wie ein Pferd mit Scheuklappen bestritten habe, drängt sich eine Wahrheit immer weiter in mein Blickfeld: So schön es sein mag, vier Jahre zumeist theoretisches Wissen angehäuft zu haben, so kann ich doch praktisch gesehen so gut wie gar nichts. Wenn Verwandte mich fragen, wie man dies und jenes behandelt, dann fühle ich mich oft wie ein ahnungsloser Ersti, der dabei ertappt wird, wie er googelt, was ein Gen eigentlich ist. Blut abnehmen, eine Viggo legen – mal klappt es, mal nicht. Dabei sind das nur Basic Skills. Während ich mich jetzt noch hinter dem Titel der Studentin, Famulantin oder PJlerin verstecken kann, so holt mich die Realität doch schneller ein, als ich es gerne hätte – denn als Ärztin sollte ich doch schließlich das, was die Studenten nicht können, halbwegs beherrschen.

Ein Praxisblock im Rahmen meines Studiums hat mich dazu bewegt, diesen Artikel zu schreiben. PJ – nächstes Jahr schon?! Dieser Gedanke graust nicht nur mir, sondern auch einigen meiner Mitstudierenden. Das Praktische Jahr, das letzte Studienjahr, sorgt ungewollt für einen kalten Schauer, der einem über den Rücken läuft. Fast Arzt oder Ärztin zu sein ist unglaublich, manchmal unglaublich erschreckend. Umso weiter ich im Studium voranschreite, desto mehr nimmt der Praxisanteil zu. Eigentlich logisch. Das bedeutet mehr Zeit im Uniklinikum oder peripheren Lehrkrankenhäusern und weniger Zeit für theoretische Seminare oder Vorlesungen. Alles mit der Ruhe, denke ich. Wovor habe ich eigentlich Angst? Bis zum PJ sind es noch ein, bis zum Studienabschluss zwei Jahre. Umso weiter ich im Studium voranschreite, desto mehr zeigt sich, dass mein Wissenszuwachs dem Praxiszuwachs eigentlich nicht gerecht wird. Mehr Praxis ist nicht gleich mehr Wissen.

Das mag nicht auf jede Uni, jedes Krankenhaus, ja jeden Studierenden zutreffen, und doch bekomme ich mit, wie einige meiner Kommilitonen und Kommilitoninnen – insbesondere die mit Vorwissen – als Aushilfskräfte zweckentfremdet werden, obwohl sie eigentlich Lehre erhalten sollten. Blut abnehmen und Haken halten sollte natürlich gelernt sein, keine Frage, aber ist das die richtige Vorbereitung auf das PJ, die letzte Stufe hin zum Arztsein? Dann wiederum habe ich Kommilitoninnen und Kommilitonen, die im bald neunten Semester noch nicht einmal Blut abnehmen können. Ich würde lügen, wenn ich sage, dass ich im ersten Moment nicht auch etwas geschockt über diese Tatsache war. Im zweiten Moment, einige Überlegungen später, jedoch nicht mehr: Wie soll man etwas können, wovon man zuvor nie die Möglichkeit hatte, es zu üben? Andere Kommilitoninnen und Kommilitonen hingegen können Patienten mit geschlossenen Augen zunähen. Mittendrin stehe ich und frage mich: Was ist denn für einen Studenten im klinischen Studienabschnitt normal?

Ist es nur der Corona-Pandemie zuzuschreiben, dass teilweise solch derartige Differenzen zwischen uns Studierenden bestehen? Oder sollte es an dem eigenen Engagement liegen, wie viel praktisches Wissen man in seiner Studienzeit erlangt? Wenn ja, darf der Unterschied überhaupt so gravierend sein? Ich frage mich all das, weil ich weiß, dass der Anspruch an die Lehre in der Universität nicht sein kann, fertige Ärztinnen und Ärzte aus uns zu machen. Es gibt kein All-inclusive-Programm; man bestellt keinen fertigen Arzt und kriegt ihn nach dem Studienabschluss geliefert. Auch, wenn die eine Studentin Unfallchirurgin und der andere Student Dermatologe werden will, stelle ich in Frage, ob das Medizinstudium uns nicht auf einen ähnlichen Stand der Dinge bringen sollte, bevor wir auf Patienten losgelassen werden? Zweifellos: Probieren geht über Studieren. Ich streite nicht ab, dass man aus und mit seinen Fehlern lernt. Doch ist der Patient, der fest an unsere ärztliche Kompetenz glaubt, das richtige Versuchskaninchen? „Ich kann mir all diese Medikamente doch nicht merken, da verlasse ich mich voll und ganz auf die Ärztinnen und Ärzte hier auf der Station“, sagt mir kürzlich ein Patient. Das klingt zwar alles schön und gut, jedoch nur so lange, bis wir Fehler machen. Sind wir Studierenden was gute Lehre anbelangt, eben jene, die uns hilft, diese Fehler zu vermindern, nun der Willkür unserer Lehrärzte ausgesetzt, oder der Tatsache, dass wir vielleicht einen schlechten Famulaturplatz erwischt haben?

Wörtlich gesehen bedeutet ein Doktor, ein Lehrender zu sein. Daher wird dieser Begriff in der Akademik auch als Titel verwendet. Der Begriff des Doktors, der dem lateinischen Begriff “docere” entspringt, wird deswegen auch für den Ausdruck Doktor benutzt, der heutzutage oft dem des Arztes gleichgestellt wird. Natürlich gibt es sehr engagierte Kolleginnen und Kollegen, denen es am Herzen liegt, ihr Wissen der nächsten Ärztegeneration weiterzugeben. “Was ich Ihnen heute gezeigt habe, dass lernen Sie nicht aus dem Lehrbuch, auch nicht in anderen Krankenhäusern, sondern nur bei mir”, sagte vor kurzem noch ein Arzt zu mir. Er hatte Recht damit – seine jahrelange Berufserfahrung vermittelt mir kein Buch und keine Lernplattform der Welt, egal wie gut ich auf diese Weise das zweite oder dritte Staatsexamen bestehen mag. Genau deswegen ist Unterricht am Krankenbett, medizinische Lehre von Mediziner*innen zu Studierenden so wichtig.

Leider sieht die Realität in den meisten Fällen anders aus. “Oh, ich wusste gar nicht, dass heute Studierende kommen.” oder “Ihr müsst Geduld haben, irgendeiner wird sich gleich schon um euch kümmern.” Dies spiegelt natürlich nur meine eigene Erfahrung und Meinung wider – aber darf es sein, dass man gute Lehr- und Lernerfahrungen in der Praxis zumeist an einer Hand abzählen kann? Nicht, dass ihr mich falsch versteht, es geht nicht darum, mich zu beschweren, sondern diesen Missständen entgegenzuwirken. Natürlich ist man als Studierender manchmal froh, wenn man nichts tun muss, oder nach einer halben Stunde nach Hause geschickt wird, vor allem wenn man sowieso genug um die Ohren hat. Vielleicht hätten wir aber einen Patientenfall mitnehmen können, der uns begeistert, oder eine ärztliche Anekdote, die sich uns in den Kopf brennt. Wir sammeln heute, in unserem Studium, mitunter das Wissen, das einem Patienten morgen, in unserem Berufsleben, das Leben retten könnte.

Nicht unschuldig an dieser Tatsache ist – das ist nichts Neues – der Mangel an medizinischem Personal an allen Ecken und Kanten, sowohl für die Patientenversorgung als auch für die Lehre. „Wir sind derartig unterbesetzt, statt drei Ärzten haben wir nur einen auf Station, da ist die Hölle los“, kriege ich heute noch zu hören. Im grimmig wirkenden Blick des Arztes liegt die unterschwellige Nachricht, dass wir nur einen weiteren Stressfaktor für ihn darstellen. Doch wie sollen wir die Patientinnen und Patienten von morgen vernünftig behandeln, wenn wir nur zuschauen, nichts Praktisches lernen, was über ein paar Vorlesungskripte hinausgeht? Worauf soll das Gesundheitssystem von morgen basieren, wenn heute kein ordentliches Fundament gelegt wird?

Universitäre Lehre fordert manchmal viel, was sie nicht vermitteln kann. Natürlich kann sie wahrlich nicht alles vermitteln; dafür gibt es genug Wahlfächer, die man belegen kann. Jedoch sollten uns diese helfen, Schwerpunkte zu legen, nicht Grundlagen zu lernen und unsere groben Wissenslücken zu kompensieren. Die Approbation mag uns zur Ausübung der ärztlichen Tätigkeit befähigen, zaubert jedoch nicht plötzlich einen fertigen Arzt aus dem schwarzen Magierhut. Zweifellos ist Eigenverantwortung und Engagement von uns Studierenden gefragt, um zu Ärztinnen und Ärzten heranzuwachsen, aber auch Begeisterung und der Wille, sein Wissen zu vermitteln, von unseren Lehrenden. Das Medizinstudium macht keine fertigen Ärztinnen und Ärzte aus uns, dies kann und darf man nicht erwarten: Schließlich ist Medizin ein lebenslanges Lernen, ein Arzt ewiger Student. Die Grenzen dessen, was wir als angehende Ärztinnen und Ärzte wissen müssen, sollten, oder könnten, verschwimmen ineinander, und machen diese Aufgabe manchmal zur Sisyphos-Arbeit.

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