Mit Ärzte ohne Grenzen in Mosambik

Die Ärmel hochkrempeln und sich für die Opfer einer Naturkatastrophe mit seinem gesamten medizinischen Können einzusetzen, das ist der Traum vieler Mediziner. Mit einem "Helfersyndrom" hat das wenig zu tun, so Anja Kleinecke von "Ärzte ohne Grenzen": Flexibilität, Organisationsvermögen und Eigenverantwortlichkeit sind gefragt. Sie berichtet in Via medici über ihren Einsatz bei der Flutkatastrophe in Mosambik.

Es war kühl und regnerisch, als ich in Chokwé ankam; oder besser: ausgesetzt wurde. Der Pilot fand nur mit Mühe eine nahezu ebene, schon leicht angetrocknete Lehmfläche, die sich für wenige Sekunden zum Landen eignete - gerade genug Zeit, um herauszuspringen und unsere Rucksäcke aufzufangen. Schon hob der Hubschrauber wieder ab. Da standen wir und sahen uns ratlos an: ein englischer und ein Schweizer Arzt, ein französischer Koordinator und ich. Wir mussten unser Team von "Médecins sans Frontières" (MsF) finden, dem französischen Pendant zu "Ärzte ohne Grenzen".

Eine Kirchturmspitze als Wegweiser im Schlamm

Aufs Geratewohl marschierten wir los. Wir bahnten uns einen Weg über umgestürzte Bäume und wateten durch Wasser und Schlamm. 13 Kilo, mein gesamtes Hab und Gut für die kommenden Monate, lasteten schwer auf meinem Rücken. Es begann zu regnen. Frauen standen knietief im Wasser und wuschen ihre Wäsche; Kinder putzten Tische und Stühle mit schlammigem Straßenwasser; Männer saßen vor ihren Hütten inmitten völliger Verwüstung. Sie grinsten uns verwundert an. Bestimmt fragten sie sich, was diese verrückten Weißen mit ihren großen Rucksäcken hier wollten. Endlich entdeckten wir einen Kirchturm mit MsF-Flagge, der in einiger Entfernung alles überragte. Viele Wege waren unpassierbar, sodass wir erst nach vielen Umwegen, durchnässt und mit schmerzenden Schultern beim MsF-Standort ankamen. Im bläulichen Licht des Kircheninneren konnten wir inmitten eines ziemlichen Chaos von Menschen einige hellhäutige Helfer mit dem typisch rot-weißen Emblem von "Ärzte ohne Grenzen" ausmachen. Ich hatte meinen künftigen Arbeitsplatz erreicht.

Von Noteinsatz zu Noteinsatz

Genau eine Woche zuvor hatte ich noch in Australien am Strand gelegen. Ich hatte mir nach meinem letzten Einsatz in Timor noch einen Urlaub an der Westküste gegönnt. Als ich dort eine Zeitung aufschlug, sprang mir sofort ein Riesenfoto von der Flutkatastrophe in Mosambik ins Auge. Mehr im Scherz sagte ich: "Schaut mal, das wird bestimmt mein nächster Einsatz." Sieben Tage später befand ich mich tatsächlich in diesem "Schlammassel".

Zurück in Bonn, erhielt ich gleich beim "Debriefing", einer Nachbesprechung meines Einsatzes in Timor, mein "Briefing" für Mosambik. In kürzester Zeit informierte ich mich über die augenblickliche Situation in Mosambik, studierte Ländermappen und MsF-Leitfäden. Dann hieß es plötzlich "asap" (as soon as possible) und zwei Tage später saß ich im Flieger.

Emergency hoch drei!

Im Büro von "Ärzte ohne Grenzen" in Maputo, der Hauptstadt, herrschte wirres Durcheinander. Alle schossen wie aufgescheuchte Hühner von Meeting zu Meeting - Emergency hoch drei! Unser "Briefing" fand nur zwischen Tür und Angel statt, denn keiner wusste zu diesem Zeitpunkt genau, was uns erwarten würde. Völlig überstürzt ging es dann mit dem Hubschrauber los zu unserem Einsatzort Chokwé. Das ganze Land hatte sich in einen riesigen See verwandelt. Zwischendurch prasselten heftige Platzregen herunter und ich hoffte nur, dass die Piloten mehr sehen konnten als ich. In den Regionen, die vom Hochwasser verschont geblieben waren, sahen wir aus der Vogelperspektive Menschen, die wie Ameisen herumwuselten und Zeltstädte aufbauten; unter und über uns lärmten Hubschrauber.

Aus dem Klinikbett aufs Dach gerettet

Chokwé war eine der am stärksten betroffenen Städte. Wie uns das Team vor Ort erzählte, war hier in der Katastrophennacht innerhalb von einer Stunde das Wasser um mehrere Meter gestiegen. Mithilfe eines Bootes hatten sie die Menschen aus den Fluten gerettet, Patienten aus Krankenhausbetten evakuiert und sie auf sichere Hausdächer gebracht.

Nun, knapp zehn Tage später, war das Wasser schon weit zurückgegangen. Es hatte aber eine dicke Schlammschicht hinterlassen, die alles, aber wirklich alles bedeckte und viele Wege völlig unpassierbar machte. Das ursprünglich sehr gut ausgestattete Krankenhaus, ausgelegt für 100 Patienten, war völlig zerstört. Infusionsflaschen, die mit einer braunen, schmierigen Schicht überzogen waren, baumelten noch an den Ständern - Zeugnisse einer überstürzten "Entlassung".

 

Foto: A. Kleinecke

 

In den umliegenden barrios sah es genauso schlimm aus. Aus den Lehmhütten war der Lehm heraus gespült worden, nur das Holzgerüst war noch übrig. In manchen dieser Hausgerippe stand noch ein Bettgestell oder anderes Mobiliar. Meistens aber befand sich sämtliches Hab und Gut, das gerettet werden konnte, auf den Dächern: Stühle, Töpfe, Fahrräder, Matratzen ... Die Menschen trockneten ihre Habseligkeiten in der trüben Sonne. Von den 50.000 Einwohnern war nur die Hälfte in Auffanglager geflohen. Die hier verbliebenen Menschen versuchten voller Energie, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen.

Essen aus der Emergency-Foodbox bei Kerzenschein

Wir wurden im einzigen Hotel des Ortes einquartiert - im zweiten Stock wohlgemerkt. War man durch die Schlammschicht im Erdgeschoss gewatet, erreichte man tatsächlich trockene Zimmer. Es gab keinen Strom und kein fließendes Wasser. Essen bestand in den ersten Tagen aus Corned Beef und Thunfischsalat aus Dosen von der Emergency-Foodbox. Im Gegensatz zu den Zuständen draußen erschien es mir jedoch wie im Paradies. Unsere ersten Team-Meetings fanden allabendlich höchst romantisch bei Kerzenlicht statt, nachdem wir uns eine Dusche mit braunem Flusswasser aus dem Eimer gegönnt hatten.

Prioritätenplan und Basisgesundheitsversorgung

Zunächst wurden unsere Prioritäten festgelegt und wer wofür zuständig sein sollte: Erkundungstouren mit dem Traktor in die abgeschnittenen Dörfer, um die Situation dort einschätzen zu können; Reinigen und Chlorieren von Brunnen sowie Versorgen der Bevölkerung mit Trinkwasser; und nicht zuletzt: Basisgesundheitsversorgung. Wir mussten einiges besser organisieren, da wir mit einem großen Andrang von Patienten rechneten. Wir beschlossen, die Kirche zunächst weiter als Behandlungszimmer zu nutzen, da sie im Augenblick der einzige notdürftig benutzbare Ort war.

Allrounder und Improvisationstalente gefragt!

Lokale Krankenpfleger versorgten den Hauptteil der Patienten. "Nur" die schweren Fälle - und davon gab es genug - wurden an uns Ärzte weitergeleitet. Viel Zeit verbrachte ich zu-dem mit der Organisation: Patienten registrieren, eine Möglichkeit der Datenerfassung und Statistik einführen, Medikamente beschaffen, die Apotheke neu aufbauen und systematisieren, den Verbrauch von Medikamenten kontrollieren usw.

 

Foto: A. Kleinecke

 

Es fehlte an allen Ecken und Enden: bei Tischen und Stühlen angefangen bis hin zu Paracetamol und Mullbinden. Medikamente waren zwar angefordert; der Nachschub klappte jedoch nur schleppend, da die Hubschrauber wegen starker Regenfälle nicht jeden Tag fliegen konnten und die Straßen bis Maputo nicht durchgängig waren. Da es keine Plastiktütchen gab, um Tabletten mitzugeben, faltete Hilfspersonal kleine Tütchen aus Papier - irgendwann hatten wir dann nicht mal mehr Papier!

600 bis 800 Patienten täglich!

In den ersten Tagen behandelten wir zwischen 600 und 800 Patienten pro Tag. Viele kamen mit Schnittwunden, infizierten und eitrigen Verletzungen, die sie sich während der Fluten zugezogen hatten. Die meisten Patienten litten allerdings an Malaria und Durchfallerkrankungen mit teils schweren Dehydrierungserscheinungen oder an schlimmen Konjunktivitiden, alles Zeichen der schlechten hygienischen Verhältnisse. Am stärksten betroffen waren Kinder. Sie kamen häufig komatös oder apathisch an und ich empfand es jedesmal wie ein Wunder, wenn sie nach ausreichender Flüssigkeitstherapie wieder zum Leben erwachten.

Am Anfang war es oft ein schwerer Kampf, da ein dehydriertes Kind zuerst einfach nicht trinken will oder alles, was man einflößt, wieder erbricht. Zudem gestaltete sich ein venöser Zugang bei kollabierten Venen, schlechtem Licht und schwarzer Haut meist als extrem schwierig. Viele unserer kleinen Patienten waren durch Unterernährung stark geschwächt und schon bald sahen wir mehr und mehr Fälle von Kwashiorkor (Proteinmangel) und Marasmus (Kräfteschwund durch hochgradige Unterernährung).

Ein LKW als Krankenwagen

Ein großes Problem war die Weiterversorgung von schwerkranken Patienten in einer Klinik. Die wenigen nicht zerstörten Krankenhäuser hatten geringe Kapazitäten und waren hoffnungslos überlastet. Trotz harter Auswahl hatten wir für 10-15 Patienten täglich Bedarf. Wenn möglich, versuchten wir die Patienten ambulant mit regelmäßigen Kontrollen zu behandeln. Transportmöglichkeiten waren ebenfalls sehr eingeschränkt. Die Straße war zwar wieder einigermaßen passierbar, aber es gab kaum Autos. Glücklicherweise hatten wir einen LKW zur Verfügung, der kurzerhand abendlich zum Krankenwagen umfunktioniert wurde.

Helfen bis zum Umfallen

Flexibilität, Organisationsvermögen und Eigenverantwortlichkeit waren in jeder Beziehung gefordert. Ich erinnere mich noch gut an jenen Montagmorgen, an dem endlose Schlangen von Patienten vor der Eingangstür warteten. Nach kurzer Lagebesprechung und Einteilung der Mitarbeiter ging es los. Hier fehlte es an Verbandsmaterial, dort an Kathetern, um Infusionen zu legen. Dann diese hochschwangere Frau - wo zum Kuckuck sollte sie ihr Kind bekommen? Wir suchten einen geeigneten Nebenraum, der gereinigt und hergerichtet werden musste. Während die Instrumente sterilisiert wurden, konnte sie auf einer Bastmatte warten, bis es so weit war. Der nächste Notfall: ein junger Mann kurz vor dem Kollaps - geschwollenes Gesicht, Atemnot - anaphylaktischer Schock nach Bienenstich. Glücklicherweise hatten wir kleine Mengen an Kortikoiden, Antihistaminika und Braunülen.

 

 

Foto: A. Kleinecke

 

Und weiter ging es: ein krampfendes Kind mit hohem Fieber; eine Frau im Koma mit Verdacht auf zerebrale Malaria; ein Kind mit schwerer Anämie, das dringend eine Bluttransfusion benötigt hätte, was hier jedoch leider nicht möglich war; ein Baby mit Verbrennungen am Arm und angehenden Kontrakturen, das chirurgisch behandelt werden müsste - ebenfalls hier nicht möglich; einige junge Männer und Frauen mit Gonorrhoe oder Chlamydien, ein Labor zur genauen Bestimmung gab es nicht - und so ging es immerfort.

1.200 Patienten sahen wir an diesem Tag. Um 17.00 Uhr hatte ich noch keinen Schluck getrunken, keinen Bissen gegessen und fühlte mich langsam selbst dehydriert. Um 19.00 Uhr saß ich dann auf der Ladefläche des LKW inmitten der Patienten. Die schwangere Frau hatte ihr Kind noch nicht bekommen und ich hoffte, dass sie sich nicht bei dem Gerüttel auf dem LKW dazu entschließen würde. Eine andere Frau erlitt während der zweistündigen Fahrt dreimal einen Krampfanfall und ich konnte erst nach Minuten wieder einen Puls fühlen ... Dies war die Horrorfahrt schlechthin trotz eines traumhaften Sonnenunterganges. In Macia, einem Auffanglager, dauerte es nochmal eine Stunde, bis ich meine Patienten gut untergebracht wusste. An diesem Abend hatte ich erste Anzeichen des "Burn-out-Syndroms".

Entspannen am Strand

Aber natürlich hatten wir auch Spass, selbst wenn das nur schwer vorstellbar ist. Nach der zweiten Power-Woche gönnten wir uns einen Sonntagnachmittag am Strand. Die ganze Mannschaft fuhr in einem alten, klapprigen VW-Bus - ausgerüstet mit Kameras und Bierdosen - an den Strand von Bilene, 80 km von Chokwé entfernt. Dort war nichts zu merken von der Flutkatastrophe, nur Sand, Sonne, Meer und ein herrliches Fischrestaurant. Zwei Tage nach diesem ersten Ausflug wurden wir evakuiert. Es war der erste Abend, an dem wir wieder richtiges Licht hatten und die Arbeit gut organisiert ablief. Genau in diesem Augenblick kam die Nachricht, dass eine neue Flutwelle drohte. Wie in solchen Fällen üblich, wurde das Team bis auf eine Minimalbesetzung von drei bis vier Leuten reduziert.

Das Wasser kam nie, doch durch diese Meldung verängstigt, verließen viele Menschen Chokwé und siedelten sich in den Auffanglagern an. Die, die in Chokwé blieben, wurden durchgehend von einem unserer Gesundheitsposten versorgt. Wir selbst verlagerten unseren Arbeitsplatz in die Auffanglager. Ich kümmerte mich zunächst wieder um die Basisversorgung der rund 30.000 Menschen in Macia, organisierte Gesundheitsposten, bildete einheimische aktivistas vom Nationalen Roten Kreuz aus, sorgte für Medikamentennachschub etc. Gleichzeitig etablierten wir ein Ernährungszentrum, da unser Hauptproblem unterernährte Kinder waren. Wir errichteten Latrinen in den Camps und sorgten für den Fall eines Choleraausbruches vor. Nach etwa drei Wochen kam die offizielle Meldung, die Menschen könnten wieder nach Chokwé zurückkehren. Schlagartig leerten sich innerhalb von Tagen die Camps und auch wir verlagerten unseren Arbeitsplatz wieder zurück nach Chokwé.

Wieder begann alles von neuem. Meine Energiereserven gingen langsam zur Neige. Seit der zweiten Woche war ich der einzige Arzt vor Ort. Nur mit unserem eingespielten Team war das Ganze überhaupt zu schaffen. Glücklicherweise übernahm nun ein mosambikanischer Arzt wieder die Versorgung der Bevölkerung. So konnte ich mich in den letzten zwei Wochen hauptsächlich um unser Kinderzentrum kümmern. Innerhalb weniger Tage hatten wir 140 Kinder aufgenommen, die teils in katastrophalem Zustand ankamen. Manche starben uns einfach unter den Händen weg. An Sonntage war nicht zu denken. Das Zentrum jedoch gab den Impuls für ein längerfristiges Projekt und existiert noch heute.

Dies alles sind Momentaufnahmen von meinem dreimonatigen Noteinsatz in Mosambik. Es gab zahlreiche Tage, an denen ich an meine körperlichen und seelischen Grenzen gestoßen bin. Und es gab genau so viele Tage, an denen ich mich glücklich fühlte und an keinem anderen Ort der Welt sein wollte. Wenn einer meiner kleinen Schützlinge anfing, mich anzulächeln, und wieder draußen spielen konnte, war das der schönste Dank für mich. Genauso, wenn meine mosambikanischen Mitarbeiter mir erklärten, sie würden - egal wo - mit mir weiter arbeiten wollen, waren schnell alle Widrigkeiten vergessen.

Anja Kleinecke hat ihr AiP in Kiel gemacht und arbeitet seit anderthalb Jahren hauptberuflich für Ärzte ohne Grenzen – zurzeit ist sie bei einem Einsatz in Äthiopien.

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