- Bericht
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- Max von Karais
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- 31.03.2005
Chirurgie-PJ in Buenos Aires
In seinem Bericht erzählt Max von seinem Chirurgie-Tertial am Hospital de Clinicas in Buenos Aires und davon, warum Südamerika für ihn so besonders faszinierend war.
Alle Fotos: M. v. Karais
Das Erlebnis einer Hauptstadt vieler Welten
Die Metropole Buenos Aires und das schillernde Land Argentinien garantieren faszinierende Erlebnisse. Kein Reisefreudiger könnte sich der fesselnden südamerikanisch-europäischen Melange entziehen.
So bin auch ich nachhaltig beeindruckt worden – leider kann es durch die Entfernung nur beim Traum bleiben, Buenos Aires zum schnellen Urlaubsziel zu erklären.
"Daß Buenos Aires jemals begonnen hat, kann ich kaum glauben; mir erscheint es so ewig wie die Luft und das Wasser."
Jorge Luis Borges ("Labyrinthe")
Überwiegend leben meine Darstellungen von losen persönlichen Eindrücken, die etwas beitragen wollen für oder wider die Entscheidung "die Stadt Buenos Aires als Lebensmittelpunkt für ein paar Monate".
Ich bin davon überzeugt, dass solcherlei Beschreibungen wichtig sind, um ein Gefühl für den Ort zu gewinnen.
Wer aber jetzt schnellen Zugriff auf meine zusammengetragenen Informationen zur dortigen Medizin möchte, den bitte ich, zunächst nur den letzten Absatz zu lesen – dort möchte ich besonders dem PJ-Planenden Aufschluss über die Eigenheiten des medizinischen Betriebs geben.
All denjenigen, die sich der Subjektivität des nun Folgenden hingeben möchten, wünsche ich ergiebiges Vergnügen.
BUNTE EINDRÜCKE
Nach zwei Monaten in einer recht kleinen Wohnung zog ich für die letzten zwei Monate des Tertials in ein weitaus entspannteres Bonaerenser Viertel, nämlich nach "Palermo".
Mein geliebtes Palermo also, auch hier bleibt es mir treu - siehe hierzu auch mein Erasmus-Bericht aus dem Jahr 2001.
Meine erste Wohnung im Kern des Stadtzentrums gab mir durch ihre enorme Lärmdurchlässigkeit die nötige Gewissheit, an einer besonders frenetisch befahrenen Straßenkreuzung zu leben. Dort treffen sich zwei sechsspurige Hauptarterien, die Zirkulation reißt nie ab. Jeder nächtliche Motorradfahrer trompetete seine PS direkt durch den windigen Spalt der Balkonschiebetür. Gegenüber besaß eine Parkgarage ein Warnsystem in Form einer rasselnden Klingel, um vorbeigehende Fußgänger auf hinein- und hinausschießende Parker hinzuweisen. Diese frequentierten das Parkhaus so stark, dass ich nachts nur noch aufschrak bei Unterbrechung des Klingelgerassels.
Doch tagsüber im Zentrum wurde ich schnell vom Gefühl befallen, am richtigen Ort zu sein, in Straßen voller Menschen jeglichen Stils, Menschen, die hektisch ihren Tagesgeschäften nachgehen. Es war immer wieder berauschend, mit der Aura von Wichtigkeit frühmorgens inmitten von eilenden Menschenmassen in die größte Universitätsklinik von Argentinien zu steuern. Der Rausch endete immer spätestens im Gebäude selbst, wenn ich bemerken musste, nur der Herr Student zu sein.
Aber die Zeit des "cand. med." vergeht ohnehin zu schnell, und ich gäbe Einiges darum, noch einmal die Freiheiten des Praktischen Jahres genießen zu dürfen.
Das kulturelle Angebot ist derart überbordend, dass allein das tägliche Programm regelrecht studiert werden muss, um aus dem Gewirr aus "Hoch-, Sub-, und sonstiger Kultur" ein Destillat zu gewinnen, das möglichst nicht eine halbstündige Taxifahrt mit einschließt. Der teppichartige Stadtplan ist also ständigen Konsultationen ausgesetzt, wenn es um die Abendplanung geht. Zur Erinnerung: In Buenos Aires leben 14 Millionen Menschen. Es ist die viertgrößte Stadt der Welt.
Die Galionsfigur der Bühnenkunst ist das weltberühmte Teatro Colón, eins der größten Opernhäuser überhaupt. Um der aus Bs.As. stammenden Pianistin Martha Argerich beiwohnen zu dürfen (sie gibt jedes Jahr aus Liebe zu ihrer Heimat einen Konzertzyklus), hatte ich zwei Stunden anzustehen, und die Karten waren für alle Konzertabende binnen drei Tagen ausverkauft. Dies belegt, wie groß hier bei (oder: wegen?) aller finanzieller Verzweiflung der Durst nach Kulturellem ist. Unzählige größere bis kleinere Theater, Programmkinos, Jazzkonzerte und Museen mit angenehmen Öffnungszeiten stehen täglich zur Erkundung bereit.
Die Weltstadt Buenos Aires bietet ein Elysium der Kulturfreude, wie sonst nur in wenigen anderen Metropolen zu finden.
Wie bekannt, zeigen Argentinier eine recht ausgeprägte Zuneigung zu Fleischwaren. Und dieses - übrigens dort immer noch billigstes - Nahrungsmittel kommt wirklich nach allen Regeln der Grillkunst auf den Tisch, an jeder Straßenecke. Das Rindfleisch ist zart und schmackhaft; Minutensteaks zum Frühstück zu essen, verliert unmerklich seinen barbarischen Beigeschmack. Die Salate sind frisch, das Kartoffelpüree aus Kartoffeln, und auch die Nachspeisen besitzen ehrlichen Charakter.
Feinere Gaumen finden zumindest in der Hauptstadt eine gute Auswahl moderner argentinischer Küche.
Auch alle Spielarten der "world-cuisine" sind vertreten, allem voran die Welt des Sushi, bis hin zu armenischen Spezialitätenrestaurants.
Nur bayrische Wirtshäuser vermisse ich. Eigenartig, dass noch niemand ein Hofbräuhaus eröffnet hat - immerhin gibt es in der Provinz von Salta (nördliche Andenregion) ein Oktoberfest, das wirklich bayrische, ergo ernstzunehmende „Ausschreitungen“ bietet.
Leider ist die Küche italienischer Einwanderer eher enttäuschend. Aldis Tiefkühlpizza verspricht Verzückung, verglichen mit den dortigen, in fädenziehendem Käse und Öl ertränkten Teigkissen. Die letzte Chance (nach vielen Versuchen), die ich Pastagerichten gab, endete mit einem Wutausbruch: Die angepriesene Hausmacherpasta mit Hausmacherpesto war nichts anderes als zerfallende Schnüre mit rohem Knoblauch, Öl und Grünzeug (Basilikum?).
Merkwürdig, wie in wenigen Generationen eine profunde Esskultur vollkommen verwässern kann.
Es ist vielleicht der Hang zum Ikonenhaften, der die Argentinier bisweilen zu einem nicht immer tiefgehenden Umgang mit dem Erbe der Alten Welt bringt.
Wenn man also aufmerksam seine Ziele ansteuert – und dazu den richtigen Stadtführer hat, siehe unten! – erlebt man großen Essgenuss.
Die Menschen aus Buenos Aires nennen sich selbst "porteños", Hafenmenschen. Echte Hafenromantik entsteht dort zunächst in ihrer brüsken Umkehrform, dem Gestank aus toten Fischen zwischen Schiffswracks, im Nebenfluss bei "La Boca", Heimatviertel des Tango und von Maradona, und nicht immer ungefährlich - im Nachrichtendeutsch sozialer Brennpunkt genannt. Der Rest des Hafens beeindruckt dann durch design-renovierte "Dockland-Lofts" mit Spitzenrestaurants und Edel-Diskotheken für lebenshungrige oder einfach nur hungrig-geldige Businessleute oder Touristen gängiger Vorlieben.
Die Weite des Rio de la Plata lässt den Fluss an ein Meer erinnern, nur selten und bei besonderer Wetterlage kann man das gegenüber- liegende Uruguay erspähen. Montevideo, die Hauptstadt des kleinen Nachbarn, lohnt einen Besuch, es ist eine vergessen wirkende Stadt mit lateinamerikanischerem Charakter, sie imponiert mit einer einzigartigen Lage am Rio de la Plata „schräg vis-á-vis“ von Bs.As.; ihr Glanz ist verblichen und der Nachhall ihres einstigen Zeniths verwünscht den Besucher. Mit einem Schnellboot kann man in zweieinhalb Stunden hinüberfahren.
Ähnlich wie die Menschen in Uruguay – es ist eigentlich ein gemeinsamer kulturhistorischer Raum der La-Plata-Staaten - sind die porteños von Buenos Aires melancholisch (ohne den Katzenjammer Italiens oder Griechenlands). Sie sind witzig (ohne den Lärm Italiens oder Spaniens). Sie sind elegant (ohne das "haute" von Paris oder das Haargel Roms). Und sie sind ganz besonders freundlich (ohne das Spröde Deutschlands).
Eigentlich perfekt - so bezeichnen sie sich auch selbst: "No solo somos perfectos, además somos Argentinos." ("Nicht nur sind wir perfekt, obendrein sind wir Argentinier.").
Und sie haben nicht ganz unrecht, ihnen gelingt die Mischung ziemlich gut; als in Europa Verwurzelter fühlt man sich hier seltsam sanft aufgehoben, umgarnt von einem ausgewogenen Allerlei tugendhafter Attribute aus dem Mutterland.
Allerdings ist dies nur der erste Verführerduft...
Erstaunlich ist für den Neuling nämlich die Widersprüchlichkeit im Benehmen:
Es wird eine offenherzige Art der Begrüßung und des small-talks gepflegt, jeglichen Galanterien wird ausreichend gehuldigt, es wird überzeugendes Interesse an der anderen Person (zumindest am Ausländer) transportiert – demgegenüber aber wird mit Nonchalance auf die Füße getreten und vorgedrängelt. Trottoir und eigene vier Wände stellen offenbar zwei völlig voneinander getrennte Erziehungswirklichkeiten dar.
Wenn es um Straßenverkehr in Metropolen geht, ist man gewöhnt zu hören, Paris oder gar Berlin seien chaotisch.
Selbst Buenos Aires ist aber nicht wirklich chaotisch, der Verkehr ist geregelt, Ampeln wird weitgehend Folge geleistet, es gibt fast nur Einbahnstrassen (Schachbrettplanung der Neuen Welt). Wirklich verwunderlich ist nur, dass sich Auto- und Busfahrer benehmen, als filtere ihre Windschutzscheibe menschliche Wesen aus ihrem Gesichtsfeld heraus. Fußgänger sind in Autofahreraugen inexistent. Ich halte es für bisweilen lebensgefährlich - gerade für ältere oder schwächere Menschen - hier Strassen zu überqueren.
Hingegen selbst ein Taxifahrgast zu sein, ändert natürlich das Machtgefühl schlagartig: Es ist ein Genuss, zügig und souverän (vor allem extrem billig) durch die Strassen gefahren zu werden. Der noch größere Genuss aber besteht darin, mit den Taxifahrern zu sprechen. Hier sitzt man an der Quelle. Das ganze schillernde Spektrum des porteño-Befindens erfährt der Fahrgast in Miniaturlehrstücken. So fügt man täglich ein weiteres Bauteil zum Verständnis der Stadt hinzu. Selbstverständlich sind Taxifahrer meistens freundlich und zu Scherzen aufgelegt - was man von den Fahrern eiterfarbener Mercedes-Benz bei uns daheim nicht immer behaupten kann.
Wenn ich Taxifahrer heranziehe als Spiegel menschlicher Begegnungen in einem Land, wird mir also klar:
Es ist einfach wunderbar, vier Monate in einem auffallend freundlichen Land zu leben.
Im Landesinneren übertrifft die Zugewandtheit sogar bei weitem diejenige der Hauptstadt, aber dazu später mehr. Nicht, dass ich unser Volk der Dichter und Denker herabsetzen wollte – trotzdem wirkt ein viermonatiger Urlaub von mitteleuropäischer Schroffheit und Verschlossenheit recht befreiend.
Obwohl mein Aktionsradius sich hauptsächlich auf arriviertere Viertel beschränkte, sind mir auch dort schon bestürzende Bilder widerfahren.
Etwa kleine Kinder im Alter von fünf Jahren, die völlig verlassen durch das nächtliche Zentrum streunen und mit glasig-leeren Augen Erwachsene um Münzen anflehen. Solche „Begleiterscheinungen“ sind die Menschen dort wohl gewöhnt, denn sie erschrecken darüber nicht mehr. Die Schwachen der Gesellschaft sind ausgebootet; auch alte Menschen, die auf der Strasse leben, sieht man immer wieder.
Seit einiger Zeit hat sich Buenos Aires und Argentinien auch an eine andere Erscheinung gewöhnen müssen: Die dauernden Kinderentführungen. Sie geschehen meist in den äußeren Stadtteilen und betreffen Kinder wohlhabender, aber keineswegs nur superreicher Leute. Täglich sind im Fernsehen dramatische Szenen zu verfolgen, Eltern und Freunde der geraubten Kinder veranstalten Aufrufe und Demonstrationen.
Die Entwertung des argentinischen Pesos, der vormals an den US-Dollar gekoppelt war, hatte den Mittelstand am unbarmherzigsten getroffen. Damals sind über Nacht Millionen von Menschen so gut wie mittellos geworden. Es kursieren Gerüchte, wohlinformierte Bürger aus höheren Kreisen sollen am Vortag Warnungen erhalten haben, um daraufhin ihr gesamtes Vermögen auf einmal vor dem Einfrieren retten zu können. Die Banken (und überhaupt die Politik im allgemeinen) sind nach wie vor Gegenstand des Bonaerenser Grolls.
Die Kopplung an den US-Dollar war eine der vielen kurzsichtigen argentinischen Entscheidungen. Man gaukelte sich selbst noch ein letztes Mal stolzen Wohlstand vor, bevor die „Schonfrist“ wie zu erwarten in der finanziellen Katastrophe enden musste. Denn der nominale Wert auf dem Papier war nach ein paar Jahren schon lange nicht mehr mit der miserablen Wirtschaftsituation in Einklang zu bringen.
Es ist zunächst ziemlich unglaublich, dass ein Land, das einmal das reichste der Welt war, partout nicht mehr in ökonomisch funktionierende Bahnen geraten kann. Und das seit Jahrzehnten.
Dabei wären ausreichend Möglichkeiten für ausgewogenen Wohlstand vorhanden, denn Argentinien ist vielfach gesegnet mit einer bunten Mischung an Rohstoffen und einer noch recht großen Zahl an gut ausgebildeten Menschen.
Es ist nicht nur mehr ein Verdachtsmoment oder mit charmanter Lasterhaftigkeit zu apostrophieren, dass Argentinien offensichtlich immanente Schwierigkeiten beim Umgang mit Geld hat.
Der Peronismus (die Politik Perons und seiner Gattin Evita) etwa – als urargentinisches Exempel merkwürdiger Politik - hat mit seinem historisch einmaligen und ziemlich verqueren Versuch, alle politischen Farben in eine Staatsform zu pressen, dem Staatshaushalt letztlich mehr geschadet als genützt.
Später wurden dann viele wirtschaftliche Fehlentscheidungen und unbedachte Ausgaben vor allem während der Diktaturen und Militärjuntas in den siebziger Jahren und frühen achtziger Jahren gefällt; Zeiten, die wie Narben im Gedächtnis des Argentiniers verweilen.
Tief bewegt hat mich die an jedem Donnerstag nach wie vor stattfindende Versammlung von Witwen, deren Ehemänner während ebendieser Schergen-Regimes spurlos verschwunden sind. Mit weißen Kopftüchern vor der "casa rosada" (der Residenz des Präsidenten) verlangen sie wöchentlich Aufklärung darüber, was mit ihren Männern geschehen ist.
Auf einer kleinen Reise durch die Anden im Nordwesten Argentiniens (nahe dem Dreiländereck bei Chile und Bolivien) erfuhr ich einmal mehr, wie widersprüchlich Argentinien sein kann.
Die Menschen dort haben äußerst wenig mit dem europäischen Gepräge der Riesenhauptstadt zu tun. Sie sind fast ausnahmslos Mestizen (Nachfahren von Verbindungen der autochthonen Indianerbevölkerung und der spanischen conquistadores) und lassen den Reisenden eine milde und zurückhaltende Art spüren. Vielleicht einer der buchstäblichen Höhepunkte der Reise waren Autofahrten in bis zu 4.000 Metern Höhe, auf Schotterpisten entlang der Gleise des "Tren a las Nubes", des "Zugs in die Wolken". Dieser Zug schraubt sich mit unerbittlicher Langsamkeit durch die dünne Luft der Anden; er wurde seinerzeit eingesetzt, um Borax herabzutransportieren und fungiert nun als lukrative Touristenattraktion.
Das nahegelegene alte Indianerdorf bot physikalisch intensive Eigenheiten: Die Luft enthält wenig Sauerstoff und viel Staub, gleichzeitig sticht die Sonne und der Wind beisst. Mit Koka-Blättern wird versucht, der Höhenkrankheit entgegenzukauen.
Auch das mystische Patagonien durfte auf den Entdeckungen nicht fehlen. Dieser "Landstrich" der Größe Deutschlands und Italiens zusammen ist der südliche Abschluss des Kontinents. Um dorthin zu gelangen, empfiehlt sich ein Inlandsflug, denn die 3.000 Kilometer in Bussen zu bewältigen, würde einer Selbstkasteiung gleichen, der man vielleicht geläutert entsteigen würde: die Landschaft dort setzt denn auch ein gewisses Maß an seelischer Reinheit voraus. Steppe, wohin man blickt. Kein Baum, kein Strauch, ein paar Schafe, und noch weniger Menschen. Alle 150 Kilometer ein Dorf, das kartographisch als solches verzeichnet ist, aber nur aus einem Einödhof besteht.
Dauerwind der Stärke 10 peitscht über die Weite, nicht nur dadurch sind die Straßen Patagoniens berüchtigt für ihre Gefährlichkeit. Bei Überschreiten von 60 km/h erhalten die schnurgeraden, grauen Kiespisten Traktionsqualitäten einer Bobbahn. Es ist ein eigentümlich rauhes Land, das in seiner Ursprünglichkeit einzigartig ist.
Besonders urzeitlich wird es in der patagonischen Andenregion des Kordillerenkamms (Chile und Argentinien teilen sich Patagonien, die Trennlinie sind die Kordilleren): Hier schieben sich die gewaltigen Gletscher herab, die mit Getöse ihre Eisbrocken in kobaltfarbene Seen kalben. Mit Spike-Sandalen an den Füßen kann man mit einem Naturführer über die Gletscherfläche staken.
Wer einen Tiroler Alpengletscher kennt, sollte jetzt nicht abwinken, denn der Anblick des „perito-moreno-Gletschers“ ist mit keiner herkömmlichen alpinen Erfahrung gleichzusetzen.
MEDIZIN UND PJ
Die Gebäude der Fakultät und der Klinik scheinen den Eingebungen eines George Orwell zu entspringen - eine schaurige, monumentalistisch-faschistoide Stilmischung erschwert dem Hilfesuchenden das ohnehin täglich schwindende Vertrauen in die ärztliche Fürsorge. Bizarre Verstärkung findet die Groteske in den unzähligen finsteren Treppenhäusern, deren Lifte nur durch Liftboys gesteuert offensichtlich zufällig alle halbe Stunden im Erdgeschoss vorbeischauen, wo schon lange Schlangen warten; obendrein rufen die verzweifelten Warter ihr Abfahrtsstockwerk durch die Ritzen der Lifttüren in die Schächte hinab, um ihre Chancen auf Mitnahme zu erhöhen - in den Gängen spuken widerhallende Liftschachtrufe.
Beim Tagesablauf in den Stationen werden Arbeitsverteilungen und Zeitpläne weitgehend eingehalten. Die Ärzte besitzen fundierte theoretische Kenntnisse und sind „up to date“, es gibt gut besuchte Fortbildungen und regelmäßige Konferenzen. Hygiene findet in Basismaßnahmen (Händedesinfektion etc.) Berücksichtigung, allerdings ist das Kleidungsreglement blanker Unsinn, denn Kittel werden auf der Strasse getragen, im Restaurant und im Bus, OP-Kleidung wird von zu Hause in einem Rucksack mitgebracht.
Die wirkliche Crux der öffentlichen Kliniken besteht in chronischem Geldmangel, so gehen die meisten funktionierenden Gegenstände auf Stiftungen gutmeinender Medizin-Mäzenaten zurück.
Junge Ärzte haben in solchen Einrichtungen ein Los, das sogar jeden überarbeiteten Assistenzarzt in deutschen Landen in Angst und Schrecken versetzen würde. Um eine Ausbildung zum Facharzt genießen zu dürfen, müssen sie an sogenannten "concurrencias" teilnehmen, das bedeutet: Sie arbeiten vollkommen unentgeltlich jahrelang Montag bis Freitag full-time in Konkurrenz mit anderen Aspiranten. Um überhaupt Geld sehen zu können, opfern sie dann das ganze Wochenende mit Nachtdiensten in Privatkliniken, ausserdem erlangen sie nur dort die nötige manuelle Übung.
Als ausländischer Student in der Chirurgie genießt man die übliche Sympathie der Ärzte, sie lieben es, über Deutschland und die deutsche Urgrossmutter zu plaudern. Bei der Arbeit im Krankenhaus unterstehen alle Studierenden gleichsam einer überliefert-europäischen Hierarchie, so darf besonders in der Uni-Klinik ebenso wenig mit praktischen Tätigkeiten gerechnet werden wie in Deutschland auch. Der Lerneffekt soll sich in der Chirurgie wohl durch Zusehen einstellen, dies wird allerdings immer gefördert, man darf bei jeder Operation nah heran (sofern Platz vorhanden, auch steril) und immer Fragen stellen, die gerne beantwortet werden.
Um selbst zu Werke gehen zu dürfen, empfiehlt es sich, in einer der öffentlichen Kliniken in den Außenbezirken in sogenannten „guardias“ mitzuarbeiten, was etwa einer Nachtwache in einer Notaufnahme entspricht. Dazu sollte man sich als Referenz von einem argentinischen Student mitnehmen lassen. Dort überlassen dann die Assistenzärzte („residentes“) aus Überforderung alle Anamnesen, Blutabnahmen, Nähte etc. den Studenten und kontrollieren dann alles nach. Das ist der Geheimtipp für diejenigen, die neben dem lauen Zuschauen auf Station noch etwas handfest Chirurgisches mitnehmen wollen. Denn sonst kann man sich – zumindest im Hospital de Clinicas „José de San Martín“ – in der Chirurgie den Tag so gestalten, dass genug Zeit übrig bleibt, um ausgiebig zu obigen Erlebnissen zu kommen.
Es ist möglich, durch alle Teilgebiete der Chirurgie zu „rotieren“, dabei besitzt nur die Thoraxchirurgie straffe Atmosphäre, dort wird sogar vom Studenten verlangt, morgens bei der Chefarztvisite zu allen Patienten alles im Kopf zu haben. Dies ist aber die einzige Ausnahme, im allgemeinen läuft man als europäischer Anhang mit und versucht mit einem kleinen Plausch und einem Becher Mate-Tee, im Stationszimmer sein Spanisch zu verbessern.
Selbst mangelnde Spanischkenntnisse sollten niemanden abschrecken, auch wenn man dann natürlich weniger mitbekommt. Die Herzlichkeit und der Charme der Argentinier lässt es kaum zu, dass man sich in deren Gegenwart unwohl fühlte.
Die öffentlichen Kliniken, besonders das Hospital de Clinicas, eignet sich also nach meinem Erleben als PJ-Platz nicht für jemanden, der in gesteigertem Maße an Chirurgie interessiert ist – bis auf den Sonderweg „guardia“ in den prekären Randgebieten der Stadt, die man nicht nach Einbruch der Dunkelheit besuchen sollte.
Es ist also zu bedenken, dass sich öffentliche (Flaggschiff: Hospital de Clinicas) und private (Hospital Alemán, Hospital Italiano, Hospital Rivadavia und andere) grundlegend unterscheiden. Die einen sind pleite und fangen nur benachteiligte Bürger eher schlecht als recht auf, die anderen sind teuer und Privilegierteren mit Privatversicherung vorbehalten.
Sind die einen locker bis chaotisch, sind die anderen straffer organisiert und bieten weitaus größere Einbindung, mithin mehr Chancen auf Lernerfolg.
PRAKTISCHE HINWEISE
Arbeitstag ca. 8.00 – 13.00 Uhr. Geht natürlich auch länger, wenn man mag.
Der Tagesablauf ist in jedem der chirurgischen Teilbereiche anders, am interessantesten fand ich es, im OP-Trakt nach Lust und Laune bei unterschiedlichen Operationen dabei zu sein.
Dort kaufen: Sog. „Ambo“, das ist OP-Kleidung, also Kasak und Hose, muss im Rucksack mitgebracht und erst im OP-Bereich angezogen werden.
Kittel mitbringen oder dort kaufen. Kleidung in der Klinik ad libitum.
Anmeldung erfolgt im Studiendekanat „dirección docencia y investigación“ bei Dra. (Doctora) Myriam Levi. Email genügt:
dirdochc@fmed.uba.arTel/Fax: 5411-5950-8968
Av. Córdoba 2351 Piso 7º
C1120AAF Buenos Aires
Argentina
Dr. Levi verlangt einen Lebenslauf, ein Motivationsschreiben (Formsache) und ein Empfehlungsschreiben von der Heimatuniversität, möglichst in Spanisch oder Englisch.
Von ihr oder ihrer Stellvertreterin wird man dann in die Chirurgie weitergeschickt. Dort bekommt man am Ende auch die Zertifikate mit dem Stempel des Chefs der Chirurgie, Prof. Ferraina, der sehr freundlich ist.
Pro Monat erhebt das Studiendekanat eine Studiengebühr von ca. 75 US-Dollar.
Das Wetter verhält sich antizyklisch zu Europa: Ab September Frühling, November bis Februar Hochsommer mit mediterranem Charakter. Der Winter, also April bis August, ist recht mild, aber unangenehm feucht.
Geld und Preise: EC-Karte genügt vollkommen und wird von jedem Geldautomaten akzeptiert. Kreditkarte nur zum Bezahlen zu empfehlen. Grosse Beträge am Geldautomaten abheben und kleine in der Tasche dabeihaben – Karte zu Hause lassen.
Gegenwärtig, im März 2005, gilt:
1 Euro entspricht ca. 3,8 Pesos. Ein Hauptgericht mit einem Glas Wein kostet in einem Mittelklasserestaurant 12 Pesos. Es ist jetzt gerade unheimlich günstig für Europäer.
Gefahren: Argentinien und Chile gelten als die ungefährlichsten Länder Südamerikas. In Bs.As., wie in allen großen Städten, verändern sich zwielichtige und solide Aspekte von Viertel zu Viertel. Im Zentrum entspannt, ab San Telmo etwas gefährlicher, La Boca besser nur tagsüber besuchen.
Weiterführende praktische Hinweise bitte ich, guter Reiseliteratur zu entnehmen. Unter mehreren kritisch getesteten Reiseführern kann ich zwei mit Nachdruck empfehlen:
Der unverzichtbare Stadtführer „Buenos Aires“ aus dem TIME OUT Verlag. Diese kleine Bibel ist der beste tägliche Begleiter.
„Kulturschock Argentinien“ von Carl D. Goerdeler, erschienen im „Reise-Know-how“ Verlag Rump. Ein intelligentes, waches und sensibles Buch, das über Argentinien eine Zusammenschau an Fundiertem bietet, wie kein zweites.
Jeder, der jetzt Fragen hat, sei herzlich eingeladen, sich an mich zu wenden!
maxvonkarais@gmx.deHinweis eines Users
Der Bericht trifft die Verhältnisse hier sehr gut!
ABER ab sofort muss bei der Bewerbung darauf geachtet werden, dass man sich zusaetzlich bei der Faculdad de Medicina auch offiziell bewirbt!!! Dies bedeutet einen deutlich größeren Bewerbungsaufwand, aber wenn man dies nicht macht, verweigert einem die Fakultät das Siegel der Universität und die Unterschrift des Dekans, was wie ihr alle wisst zu großen Problemen bei der PJ-Anerkennung fuehren kann!!Ansonsten - viel Spass in Buenos!