• Bericht
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  • Lena Noesselt und Katrin Thomas, Berlin
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  • 12.11.2012

Ein Sommer in Kosova

Kontrastreich, gastfreundlich, vom Krieg gezeichnet. So erlebten Lena Noesselt und Katrin Thomas den Kosovo während ihrer Famulatur. IPPNW (International Physicans for the Prevention of Nuclear War) bot den beiden Studentinnen die Möglichkeit, mit dem Programm "famulieren & engagieren" in den Kosovo zu gehen.

Warum in den Kosovo?

"In den Kosovo? Das ist aber nicht Dein Ernst, oder?", große Augen, ein anerkennend-skeptisches "Hmmm" oder "Ganz schön mutig". So war häufig die Reaktion, wenn wir von unseren Plänen für den Sommer erzählten. Schließlich waren wir selbst völlig verunsichert, hatten Angst vor unserer eigenen Courage. Die Bilder und die Berichte, die hier in den 90er Jahren in Deutschland von den Kriegen auf dem Balkan gesendet wurden, sind noch sehr präsent in unseren Köpfen, die Gewalt und der Terror des serbischen Regimes.

Doch wie die Situation dort heute ist, wie das Leben aussieht, wie sich die Menschen arrangieren, davon hatte kaum jemand, am wenigsten wir, eine genaue Vorstellung. Dennoch oder gerade deshalb wollten wir im Rahmen des Programms "famulieren und engagieren (f&e)" nach Kosova, wie es albanisch heißt, reisen, um dort eine Famulatur im Krankenhaus in Prishtina und ein Praktikum bei dem Frauenprojekt Medica Mondiale in Gjakovë zu machen.

Staubig, lebendig, laut: Prishtina

Während der 24-stündigen Busreise von München nach Prishtina, in einem Bus voller Kosovarinnen und Kosovaren, bekamen wir schon einen ersten Eindruck von der unglaublichen Gastfreundschaft, die uns die gesamte Zeit unseres Aufenthaltes begleiten sollte.

Unser Aufenthalt begann in der Hauptstadt des Nachkriegs"landes" Kosova. Prishtina ist staubig, lebendig und laut. Überall sieht man weiße Jeeps der UNMIK (United Nations Mission in Kosova) und internationale Polizei aus aller Welt. Mittlerweile wohnt fast die Hälfte der 2 Millionen in Kosova lebenden Menschen in Prishtina und Umgebung.

Infektiologie in Prishtina

Unser erster Famulatur-Teil fand in der Infektiologie der Universitätsklinik Prishtina statt. Ilirjana, eine kosovarische Medizinstudentin, stellte uns in der Klinik vor und arrangierte unser Logis in einem Appartement im Gästehaus des Krankenhauses. Auf der Station bekamen wir sofort die einzigen Schlüssel zum geräumigen Aufenthaltsraum des Professors: "Fühlt euch wie zu Hause!" Seine Art uns zu zeigen, wie sehr wir willkommen sind.

Unsere Zeit auf der Infektiologie

Wir merkten schnell, dass sich die Möglichkeiten der medizinischen Behandlung sehr von denen in Deutschland unterscheiden. Die häufigsten Krankheiten auf der Infektiologie waren Magen-Darm-Infektionen, Lebensmittelintoxikationen, Tuberkulose, Hirnhautent-zündungen, Brucellose und Hepatitis. Die Diagnosestellung ist schwierig, da es nur wenig technisch-diagnostische Möglichkeiten gibt. Viele Untersuchungen müssten in privaten Praxen gemacht werden, sind jedoch für die meisten Patientinnen und Patienten nicht bezahlbar. Es gibt noch keinerlei Krankenversicherung.

Der Allgemeinzustand der Patientinnen und Patienten ist oft schlecht, die Kinder sind unter- oder fehlernährt und haben fast alle eine Anämie und schlechte Zähne. Grundsätzlich sind die Patientinnen und Patienten meist deutlich vorgealtert, das erklärt vielleicht, dass uns alle 19 Jahre alt schätzten.

Medikamente, Geld und Ausrüstung fehlen

Das Dach der Infektiologie war während unseres Aufenthaltes undicht, so dass bei Regen die Betten zwischen den undichten Stellen hin- und her geschoben werden mussten. Oft fehlen Medikamente und die wichtigen Tuberkulintests, die Auswahl an Antibiotika ist sehr begrenzt. Das größte Problem ist das fehlende Geld, wenngleich manche Engpässe auch durch mangelnde Organisation und Koordination entstehen. So konnte einmal ein paar Tage kein CT gemacht werden, weil der CT-Film nicht nachbestellt worden war.

Solche Dinge werden mit einer uns unverständlichen Gelassenheit und einer Art Schicksalsergebenheit angenommen und ertragen. Es ist erstaunlich und bewundernswert, wie gut dennoch immer die Stimmung auf den Stationen ist und wie ausdauernd und motiviert die Ärztinnen und Ärzte arbeiten, zumal der durchschnittliche Monatsverdienst bei 180 Euro liegt, während die Lebenshaltungskosten nur geringfügig unter den hiesigen liegen.

In der Gynäkologie: 40 Geburten pro Tag

Den zweiten Teil unserer Famulatur verbrachten wir in der Gynäkologie - im Kreißsaal. In 24 Stunden werden hier durchschnittlich 40 Kinder geboren. Im letzten Jahr waren es über 13.000. Die Geburtenrate in Kosova ist die höchste in Europa.

Familienplanung existiert meist nicht und die Sexualaufklärung der Menschen auf dem Land ist oft sehr schlecht. Hinzu kommt, dass eine Frau weniger Ansehen genießt, wenn sie nur Töchter hat. Deshalb werden so lange Kinder gezeugt und geboren, bis ein Junge dabei ist. Kosovaren bemerken mit einer Mischung aus Stolz und Ironie, dass die "Baby-Fabrik" die einzige funktionierende Fabrik in Kosova ist.

Die hohe Geburtenrate ist für Kosova sowohl Ausdruck als auch Ursache einer Menge vorhandener und kommender Probleme. Für uns hingegen war es natürlich spannend, so viele Geburten zu sehen. Bei zu langer Geburtsdauer werden großzügig Wehenstimulantien eingesetzt. Ehemänner und andere Familienmitglieder haben in diesem Krankenhaus bei der Geburt nichts zu suchen. Sie würden, ehrlich gesagt, das rege Treiben im Kreißsaal wirklich durcheinander bringen. Auf der Wiese vor der Gynäkologie stehen regelmäßig die frischgebackenen Papis, die Richtung 3. Stock schauen, um ihre Kleinen durch das Fenster zu bestaunen.

Geburtsvorbereitungskurse gibt es meist nicht, daher kommen die Frauen zumindest bei der ersten Geburt recht unvorbereitet im Kreißsaal an. Spätestens 24 Stunden nach der Geburt verlässt die Frau samt Baby das Krankenhaus und wird von der gesamten, wartenden Familie nach Hause begleitet.

Zweite Etappe: Gjakove

Nach kurzen Erholungspausen in Sarajevo, Bosnien und Skopje, Mazedonien starteten wir die zweite Etappe unseres f&e- Aufenthaltes, das Sozialpraktikum bei Medica Mondiale in Gjakovë, einer Stadt im bergigen Südwesten Kosovas, deren mittelalterliche Innenstadt fast vollständig im Krieg zerstört wurde.

Medica Mondiale

Medica Mondiale in Gjakovë ist eines von vier Projekten (Kosova, Bosnien, Albanien, Afghanistan) einer in Köln ansässigen Frauenorganisation, das sich zunehmend um finanzielle und personelle Unabhängigkeit bemüht. Die Arbeit der albanischen Frauen (nur die Auto- und Ambulanzfahrer sind Männer) besteht aus drei Säulen: psychosoziale Beratung und Hilfe, juristische Unterstützung und gynäkologische Betreuung von kosovarischen Frauen, welche im Jahre Vier nach dem Krieg wohl am meisten unter der bestehenden Situation leiden und oftmals vielschichtige Kriegstraumata (Verlust von Familienangehörigen, Flucht, Vergewaltigung) erlitten haben.

Sowohl Mitarbeiterinnen als auch Klientinnen sind fast ausschließlich albanischer Herkunft. Keine der jetzigen im Kosovo unter schwierigsten, teils lebensbedrohenden Bedingungen lebenden Minderheiten (Roma und Sinti, Ashkali, Serben, Bosniaken, etc.) ist vertreten.

In der ersten Woche schauten wir uns ein bisschen um und bekamen einen Einblick in die Arbeit der "Psychosozialarbeiterinnen": wir begleiteten sie zu ihren Klientinnen aufs Land und nahmen an zwei Gruppentreffen teil.

Scharfe Kontraste zwischen dem Leid der Menschen und der Schönheit des Landes

Was wir dabei sahen, hörten und erlebten, war für uns manchmal unbegreiflich, unfassbar und machte uns tieftraurig. Frauen, welche nach dem Kriegstod ihres Mannes allein mit ihren Kindern in zwei Zimmern leben, ohne Strom, Heizung und ohne fließendes Wasser - zum Leben nur das, was ihr kleines Feld her gibt. Oder eine Familie mit neun Kindern, abhängig von Medicas knappen Lebensmittellieferungen.

Dem gegenüber stand der Eindruck von der unglaublichen Schönheit der kosovarischen Berglandschaften, vom spontanen Picknick mit geborgten Kaffeetassen und der ansteckenden Fröhlichkeit der Frauen von Medica. So schwankten wir ständig zwischen Freude und Fröhlichkeit und Traurigkeit über das unglaublichem Leid. Dies machte wahrscheinlich den Aufenthalt insgesamt so anstrengend und ermüdend für uns.

Der Krieg ist nicht überwunden

In der zweiten Woche waren wir in der Gynäkologieabteilung, in der zwei Hebammen und zwei Gynäkologinnen arbeiten. Frauen erhalten hier kostenlos sowohl Aufklärung über Verhütungsmethoden als auch Verhütungsmittel, (Schwangerschafts)-Kontrolluntersuchungen und auch Unterstützung nach Vergewaltigung.

Mit einer mobilen Gynäkologie-Ambulanz fährt das Team in einem zweiwöchigen Turnus die umliegenden Dörfer und Flüchtlingsgemeinden von Gjakovë ab. Für viele der Frauen ist dies die einzige Möglichkeit, überhaupt (gesundheitliche) Hilfe zu bekommen.

Das Tabu der sexualisierten Gewalt und das damit verbundene Schweigen stellen eine sehr große Schwierigkeit dar. So wird die gynäkologische Ambulanz mittlerweile sehr gerne und häufig besucht, wohingegen nur sehr wenige Frauen Hilfe suchen, weil sie sexuelle Gewalt erfahren haben. Während unserer Zeit bei Medica Mondiale wurde uns immer wieder klar, dass der Krieg noch lange nicht überwunden ist und dass die kosovarischen Frauen noch viel Zeit brauchen, um über ihre Erlebnisse zu sprechen und sie zu verarbeiten. Die uns oft zu Ohren gekommene Meinung, dass Frauen und Männer in Kosova eigentlich völlig gleich behandelt werden, dass es keine Benachteiligung der Freuen mehr gibt, macht die Arbeit in diesem Bereich sicherlich nicht einfacher.

Fazit: Ein einzigartiges Land

Diese acht Wochen in Kosova und auf dem Balkan waren gefüllt mit starken, auch sehr gegensätzlichen Eindrücken, die uns noch lange zum Nachdenken anregen werden. Wir waren die Ersten, die mit dem f&e - Projekt im Kosovo waren. Das war für uns schwierig, da es keine IPPNW-Gruppe oder Einzelaktive im Kosovo gibt. Unsere Betreuung lag nur in den Händen einer Studentin, die genau in dieser Zeit Prüfungen hatte.

Wir organisierten unser Sozialprojekt schon von Deutschland aus vollständig allein, versuchten aber auch, während unseres Aufenthaltes weitere Kontakte zu kosovarischen Hilfsprojekten zu knüpfen.

Die selbstverständliche Gastfreundschaft, die uns überall im Krankenhaus und auf der Straße entgegen gebracht wurde, hat es uns ermöglicht, viele verschiedene Menschen kennen zu lernen und ganz unterschiedliche Eindrücke über dieses wunderschöne, immer einzigartige und für uns fremde Land und seine Menschen mit ihren Problemen und Ängsten, Wünschen und Hoffnungen kennenzulernen.

Entgegen vorheriger anders lautender Auskünfte und (Vor)Urteile fühlten wir uns auch als Frauen fast zu jeder Zeit im Kosovo sicher, wenngleich es Verhaltensregeln (Minen!) gibt, die man auf jeden Fall beachten sollte, und wir alle Unternehmungen und Einladungen immer zu zweit absolvierten.

Unsere Rückreise gewann nach diesem Aufenthalt für uns ganz besondere Bedeutung, da wir zu Fuß die von internationalen KFOR- Truppen geschützte Brücke über den Fluss Ibar in der geteilten Stadt Mitrovica überquerten und somit von serbischem Territorium unsere Heimfahrt über Belgrad fortsetzten, wobei zumindest der Stromausfall im serbischen Mitrovica-Nord derselbe war wie im albanischen Mitrovica-Süd.

Literaturempfehlungen

Beqë Cufaj:
Kosova- Rückkehr in ein verwüstetes Land
2000 erschienen im Paul Zsolnay Verlag

Elisabeth Kaestli:
Frauen in Kosova- Lebensgeschichten aus Krieg und Wiederaufbau
2001 erschienen im Limmat Verlag

Gerald Richter:
Blut und Honig- Für die UN im Kosovo
2002 erschienenim Verlag Neue Literatur

 

IPPNW

IPPNW (International Physicans for the Prevention of Nuclear War) bietet Studenten mit dem Programm famulieren und engagieren die Möglichkeit, Land und Leute sowie die medizinische Versorgung in fremden Ländern kennen zu lernen. Das Programm verbindet eine reguläre Auslandsfamulatur mit der Mitarbeit in einem IPPNW-nahen Sozialprojekt.

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