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  • Peter Verba
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  • 13.06.2007

Berufsperspektiven in den Niederlanden

Wenn es deutsche Mediziner für Famulatur, PJ oder die Zeit danach ins Ausland zieht, hoffen sie, dort selbstständiger arbeiten zu können und dass das Arbeitsumfeld freundlicher ist. Wer in die Niederlande geht, wird auf seine Kosten kommen. Denn unsere Nachbarn behandeln ihre Mediziner tatsächlich besser. Holländer und Deutsche erzählen von der Weiterbildung in Oranje.

Eigentlich wollte Sara Faller* ihre Patientin, die Heimweh hatte, nur trösten: "Es ist doch gar nicht so schlimm, dass Sie noch etwas bei uns im Krankenhaus bleiben." Die deutsche PJlerin, die gerade ein Tertial im Amsterdamer Lehrkrankenhaus absolviert, hatte dabei aber eins nicht bedacht: "Slim" heißt im Holländischen nicht wie erwartet "schlimm", sondern "clever". Zum Glück konnte der Oberarzt die schimpfende alte Dame beruhigen, aber Sara war ganz schön geknickt. "Zu den sprachlichen Fettnäpfchen kam noch hinzu, dass die holländischen Studenten alles so gut konnten - und ich nicht."
Wenn sie sich heute gegen Ende des Tertials daran erinnert, muss sie schmunzeln: "Alles in Ordnung?", hatte der Oberarzt sie nach dem Vorfall gefragt. "Mach dir keine Gedanken wegen sprachlicher Finessen. Wir wissen ja, dass du aus Deutschland kommst. Und übrigens: Wir können uns gerne duzen."

Lieber Patienten verstehen, als Leichen sezieren

Mittlerweile ist Sara glücklich, ihr PJ in Amsterdam zu machen. "Anfangs habe ich mich einfach zu sehr unter Druck gesetzt", erinnert sie sich. Wie die holländischen Studenten hat sie jetzt eigene Patienten. Am Anfang war es für sie schwierig, mit anzusehen, wie sicher ihre holländischen Kommilitonen Patienten untersuchten und wie selbstverständlich sie sich mit dem Stationsarzt die Station teilen. Aber in den letzten fünf Monaten des Medizinstudiums, der sogenannten afsluitenden co-schap ("abschließendes Praktikum"), ist das für die Holländer normal. Ihnen wird von Anfang an beigebracht, klinisch zu denken und Verantwortung zu übernehmen.

Die Holländerin Marijke van den Elzen, zurzeit in ihrer afsluitenden co-schap in der Plastischen Chirurgie der Maastrichter Uniklinik, beschäftigt sich seit ihrem ersten Studientag mit Arzt-Patienten-Beziehungen und ethischen Themen. Dafür musste sie auf so "essenzielle" Fächer wie Chemie und Physik verzichten. Ihr Präpkurs war freiwillig. Alle Holländer studieren nach dem POL-System. Im ersten Jahr stehen zum Beispiel sechs Leitsymptom-Blöcke auf dem Lehrplan, etwa Bewusstlosigkeit oder Akutes Abdomen.

Von co-schappen, ko-beraad und co-assistenten

Im 4. oder 5. Studienjahr fangen in den Niederlanden dann die sogenannten co-schappen an, die zu Beginn am ehesten mit unseren Blockpraktika vergleichbar sind. Die frischgebackenen co-assistenten erheben auf Station Anamnesen und führen allgemeine, aber auch fachspezifische Untersuchungen durch. Im letzten Jahr schnuppern sie dann noch wissenschaftliche Arbeitsluft - fünf Monate arbeiten sie bei einer Art "Forschungsfamulatur" an einem Projekt, das einer kleinen Doktorarbeit ähnelt. Danach beginnt die af-sluitende co-schap - ein Fulltimejob. Marijke arbeitet trotzdem noch nebenher als Chefredakteurin einer Zeitschrift für co-assistenten. Als Mitglied in einem ko-beraad - einer Art PJ-Beirat - organisiert sie außerdem Workshops und Partys.

Hierarchien so flach wie das Land

Die unverklemmte Freundlichkeit, die es der deutschen PJlerin Sara so angetan hat, ist für Marijke normal: Selbstverständlich isst ihr Chef mit dem Team zu Mittag, und selbstverständlich fragt sie bei den Röntgenbesprechungen alles, was sie nicht versteht. Am OP-Tisch darf sie so viel machen, wie sie sich zutraut. Bei der Assistenz in der operatie kamer setzt sie also kleine Schnitte und näht. Dazu untersucht sie Patienten, die am Tag darauf operiert werden, und hilft in der Poliklinik. Blutabnahmen machen die Schwestern.

Trotz angenehmer Arbeitsatmosphäre gilt: Keiner kann sich hängen lassen! Die Studenten werden ständig kontrolliert: In einer speziell dafür entwickelten Liste sind Kriterien zusammengefasst, nach denen der co-assistent beurteilt wird. Dazu zählt neben dem fachlichen auch das soziale Können, zum Beispiel: Wie stellt sich der co-assistent dem Patienten vor? Regelmäßig finden sogenannte Zwischenevaluationsgespräche statt, in denen der Oberarzt sich mit dem Studenten auseinandersetzt. Hier können aber auch die co-assistenten Kritik üben oder Probleme mitteilen. Zwar ist Hierarchie auch in den Niederlanden nicht ganz unbekannt. "Insgesamt hatte ich aber den Eindruck", fasst Sara zusammen, "dass man dort eher über Probleme redet als in Deutschland. Auch mit Vorgesetzten."

Im Gegensatz zu Sara findet Doortje Engel, eine holländische co-assistentin, den Unterschied zwischen den beiden Ländern gar nicht so groß. Sie absolvierte ein Teil ihrer co-schap Chirurgie in Mehrheim bei Köln. „Es hängt vielmehr vom Krankenhaus und hauptsächlich vom Engagement des Studenten ab, wie man angenommen wird“, meint sie. Doortje selbst hegt viel Faible für Chirurgie. Parallel zu ihrer co-schap bastelt sie an ihrer Doktorarbeit über Schädelfrakturen. Dabei ist es in den Niederlanden eher unüblich, während des Studiums zu promovieren. Nur etwa 10% der Medizinstudenten ringen sich dazu durch, denn der Zeitaufwand ist beträchtlich. „Ich legte 1,5 Jahre fulltime hin, und die Arbeit ist noch nicht ganz fertig“, sagt Doortje. Sie weiß aber auch um die Vorteile einer Doktorarbeit: Sowohl zu Hause als auch im Ausland wird sie ihr viele Türen öffnen – die holländische Promotion wird international anerkannt.“

Psychiatrie-Tertial auf Holländisch

Um mitreden zu können, sollte man für PJ oder Famulatur gutes Holländisch sprechen. Judith Rickelt aus Greifswald studierte die Sprache schon vor dem PJ während eines Semesters an der Maastrichter Uniklinik. "Man lernt es schnell", erklärt sie. "Und Holländer freuen sich, wenn jemand ihre Sprache spricht." Sie hängte an ihr Chirurgie-Tertial in Rotterdam noch eine freiwillige co-schap Psychiatrie an der dortigen Uniklinik an. Schon am ersten Tag übernahm Judith dort eigene Patienten. Heute sammelt sie selbstständig Fremdanamnesen von Angehörigen. Außerdem führt sie körperliche Untersuchungen durch und organisiert die Nachsorge. Einmal die Woche stellt sie die Patienten ihrem Team und dem Oberarzt vor.

Judith hatte schon in Stralsund ein Tertial Psychiatrie absolviert. "Dort konnte ich auch viel machen", erinnert sie sich. "Aber in den Niederlanden ist die Betreuung enger. Ich kann mir gut vorstellen, mich hier zu bewerben." Ihr gefällt die Atmosphäre auf Station. Ärzte und Pfleger arbeiten ihrer Meinung nach sehr gut zusammen. Ihren co-schap-Platz bekam sie nach einem kurzen E-Mail-Kontakt mit der Uniklinik. Oft reicht solch ein Kontakt mit einer holländischen Klinik aus, um einen PJ- oder einen Famulaturplatz zu ergattern. Doch Vorsicht: Famulaturen so wie in Deutschland gibt es in Holland nicht. Man wird den co-assistenten zugeteilt, denen im Vergleich zu deutschen Famulanten in der Regel mehr zugetraut wird. Dafür lernt man aber auch viel und wird auf jeden Fall nicht alleingelassen. Auch ein Auslandssemester zu absolvieren ist über Erasmus sicher möglich. Einen Studienplatz in den Niederlanden zu bekommen ist dagegen viel schwieriger.

Tropenmedizin in Amsterdam

Fühlt man sich sicher im Holländischen und im Umgang mit Patienten, spricht vieles dafür, einen Abschnitt des Studiums in den Niederlanden zu verbringen. Doch die holländische Freundlichkeit ist keine Gewähr dafür, dass man sich sofort heimisch fühlt. "Man sollte sich immer vor Augen halten, dass man neue soziale Netzwerke knüpfen muss, wenn man in ein fremdes Land geht. Selbst wenn es ein Nachbarland ist", sagt Judith.

Am Anfang kann einem deutschen PJler manches fremd erscheinen. Sara erinnert sich gut, wie ihr Oberarzt einen Kollegen am Mittagstisch einmal instruierte, wie man einem todkranken Patienten hilft zu sterben: "Zuerst nimmst du Propofol, dann Morphium." Im anschließenden Gespräch mit der geschockten PJlerin erzählte der Arzt dann aber, dass er die Euthanasie in seiner Laufbahn bisher erst dreimal anwenden musste. Entgegen vieler Vorurteile werde jeder dieser Schritte in den Niederlanden genauestens auf seine rechtliche und ethische Vertretbarkeit überprüft.

Auch sonst fühlte sich Sara auf ihrer hämatologischen Station mitten im multikulturellen Amsterdam am Anfang ihres Tertials wie "auf einem anderen Kontinent". Ein großer Teil ihrer Patienten waren Einwanderer aus den ehemaligen Kolonien Hollands. Sie kamen zum Beispiel aus Surinam oder von den niederländischen Antillen. Viele litten unter Thalassämie oder Sichelzellanämie, und auch Patienten mit Malaria landeten oft auf Saras Station, bevor man sie weiterverlegte.

Patienten wandern aus

Allerdings verlassen auch reichlich Patienten die Niederlande - zumindest für die Dauer ihrer Behandlung. Weil es in Holland sehr wenige niedergelassene Fachärzte gibt, müssen Patienten auf die Erstkonsultation eines Spezialisten in einer Poliklinik manchmal bis zu fünf Wochen warten, auf ein neues Hüftgelenk manchmal drei bis sechs Monate. Etliche Patienten reisen für solche Operationen deshalb nach Deutschland.

Sehr gut funktioniert in Holland das Hausarztsystem. Der huisarts ist immer die erste Anlaufstelle der Patienten. Viele Untersuchungen und Therapien laufen ambulant und über das gut organisierte System der Polikliniken. In den letzten Jahren etabliert sich zunehmend, dass auch Fachärzte in der Praxis des huisarts Sprechstunden abhalten.

Kind und Kegel auf Holländisch

Die holländische Assistenzärztin Sandra de Vries arbeitet in diesem Gesundheitssystem seit drei Jahren. Nach einem Jahr Notfallmedizin und einem Jahr Anästhesie verschlug es sie in die Radiologie der Uniklinik Groningen. Sie fühlt sich dort wohl, obwohl Überstunden an der Tagesordnung sind: Eine 60-Stundenwoche ist die Regel. Allerdings kann man in Holland leichter Teilzeit arbeiten. Ein Assistenzarzt kann nach einem Jahr Weiterbildung auf 80 Prozent reduzieren. Viele Ärzte mit Familien nutzen das - Männer wie Frauen.

Die Kinderbetreuung ist in Holland gut organisiert. Einem Krankenhaus ist in der Regel eine Kinderkrippe angegliedert, in der man gut einen Platz bekommt. Das wissen auch deutsche Ärzte zu schätzen: An der Rotterdamer Uniklinik ist mittlerweile jeder fünfte Anästhesist ein Deutscher. Auch die Bezahlung ist vergleichbar.

Sandra rühmt vor allem den guten Zusammenhalt unter den Assistenzärzten: "Wenn es in der Anästhesie mal brenzlig wurde, war gleich jemand zur Stelle." Die Kameradschaft hört aber nicht mit dem Dienstschluss auf. Schließlich gibt es in Groningen genug Kneipen, wo man zusammen ein Feierabendbier trinken kann. In Holland zahlt man für die ganze Runde, und wenn man beisammen sitzt, ist es selbstverständlich, dass jeder mal drankommt. Sandra schmunzelt: "Dann ist es gut, dass es Kollegen gibt, die einen auch nach Dienstschluss unterstützen - wenn die Party in Orange zu Ende ist."

Anmerkung

* Name von der Redaktion geändert

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