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- Sarah Sprinz
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- 14.09.2017
Ist ein Arzt an Bord? – Der Ernstfall in 10.000 Metern Höhe
Jeder Mediziner bekommt Schweißausbrüche, wenn er diesen Satz hört: Ist ein Arzt anwesend? Auch ich, wie ich am eigenen Leib erfahren habe.
August 2017.
Gerade erfolgreich das vierte Semester Medizin abgeschlossen, geht es für mich endlich in den wohlverdienten Sommerurlaub. Ein elf Stunden Flug über den großen Teich steht bevor. Viel Zeit um Filme zu schauen, zu lesen und vor allem eines nicht zu tun: An die Uni denken.
Zwei Stunden vor der Landung auf dem nordamerikanischen Festland wird es weiter vorne in der Flugzeugkabine unruhig. Die Leute schauen, dennoch scheint alles in Ordnung zu sein. Zumindest solange bis mich eine Durchsage zusammenzucken lässt.
„Sehr geehrte Damen und Herren, wir bitten Sie um Ihre Aufmerksamkeit. Ein Fluggast benötigt dringend medizinische Hilfe. Befindet sich ein Arzt an Bord? Ich wiederhole ...“
Ich schlucke.
Okay ...
Der Blick geht nach links, nach rechts, vorn und hinten.
Warum steht keiner auf?!
In diesen Airbus A330 passen 295 Menschen. Einer davon wird ja wohl eine höhere medizinische Ausbildung haben als ich. Oder?
Noch immer regt sich niemand und für einen kurzen Moment überlege ich, mich einfach ebenfalls ganz klein zu machen. Dann stehe ich auf noch bevor ich es so wirklich beschlossen habe.
Meine Knie zittern wie noch nie als ich Richtung Cockpit gehe. An der kleinen Bordküche empfängt mich eine der Flugbegleiterinnen. Ich stelle mich vor. Medizinstudentin, zweites Jahr. Ich erwähne ausdrücklich, dass ich selbst nur wenig Erfahrung habe, doch der Frau scheint trotzdem ein ganzer Fels vom Herzen zu fallen.
„Perfekt, perfekt! Kommen Sie bitte!“
Im Durchgang zur winzigen Kombüse herrscht Chaos. Eine Frau liegt am Boden, jemand hält ihr die Beine hoch. Sie ist bei Bewusstsein aber zittert am ganzen Körper.
„Machen Sie einfach – wenn Sie etwas brauchen, wir haben alles hier! Auch wichtige Medikamente ...“
Ich nicke und habe mich noch nie in meinem Leben so überfordert gefühlt. Das hier hat nichts mehr mit theoretischem Wissen aus Vorlesungen oder meinem Dasein als Pflegepraktikant zu tun, bei dem meine einzige Aufgabe außer Zusehen und nicht im Weg stehen war, Anweisungen genau zu befolgen. Jetzt soll ich diejenige sein, die welche verteilt.
Ich gehe auf die Knie, stelle mich vor, frage die Flugbegleiterin was genau passiert ist. Der Dame sei plötzlich komisch geworden, sie wisse auch nicht. Da sind wir schon zwei, denke ich und nicke. Ich versuche mich zu sammeln. In meinem Kopf ein riesen Durcheinander. Begriffe wie ABC-Regel und SAMPLER-Schema spuken darin herum. Letztendlich frage ich alles irgendwie durcheinander und nach Bauchgefühl ab. Mein Prof hätte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Aber mir ist wichtiger jetzt ruhig und zuversichtlich zu wirken als alles lehrbuchgetreu abzuarbeiten.
Allergien, Medikamente, Vorerkrankungen ... wird alles verneint. Die Crew schleppt einen riesigen Notfallkoffer heran und schnell finden wir, was wir brauchen. Pulsoxi, Sauerstoff, Blutdruckmanschette, Stethoskop, Defi, Temperaturmesser, Blutzuckermessegerät. Mit jedem guten Vitalwert, den eine der Flugbegleiterinnen in ein Protokoll einträgt, werde ich ruhiger.
„Müssen wir die Rega rufen? Oder notlanden?“, werde ich mit gesenkter Stimme gefragt. Ich verneine. Und verstehe zum ersten Mal, wie es sich wirklich anfühlt, die Verantwortung zu tragen: verdammt beschissen und gleichzeitig wahnsinnig krass. Wir befinden uns zehntausend Meter über dem Atlantik. Bei einer wirklich lebensbedrohlichen Situation hätte es lang gedauert bis uns professionelle Hilfe erreichen würde. Ich wäre mit meinem kümmerlichen Studentenlatein am Ende gewesen. Ich darf gar nicht daran denken. Der Copilot kommt vorbei und will wissen, ob ich die Situation unter Kontrolle habe. Zum Glück fliegen wir mit einer Schweizer Airline. Das alles auch noch auf Englisch kommunizieren zu müssen, würde dem Ganzen noch die Krone aufsetzen.
Je länger ich untersuche, desto weniger finde ich einen organischen Grund für die Symptome der Patientin. Nie war ich so froh darüber, in einem Modellstudiengang eingeschrieben zu sein wie jetzt. Dank der Untersuchungskurse der letzten beiden Semester habe ich zumindest eine grundlegende Ahnung, was ich tue. Gleichzeitig merke ich, wie viel ich tatsächlich aus dem Pflegepraktikum mitgenommen habe und profitiere vor allem von meiner Zeit auf der Intensivstation. So wie es hier in der Zwischenzeit aussieht, erinnert die kleine Bordküche nämlich an eine ebensolche.
Der Patientin ist weiter schwindelig und sie zittert, ich erfahre, dass sie allein mit ihren vier Kindern reist und sich Sorgen macht, was jetzt mit ihnen ist. Flugangst hat sie keine. Trotzdem eine Panikattacke? Ich versichere ihr durchgehend, dass alles gut wird – mit Erfolg.
Zwei Stunden bis zur Landung halte ich weiter Händchen. Zwischendurch muss ich das Protokoll ausfüllen, meine Daten angeben und nennen, was ich genau getan habe. Wir befördern die Patientin auf einen nahegelegenen Sitz in der Business-Class, wo sie liegen kann. Ich darf zur Landung zurück auf meinen Platz. Kaum am Boden erwarten uns die amerikanischen Kollegen und ich kann zum ersten Mal durchatmen.
Nach deutscher Zeit ist es weit nach Mitternacht und ich bin hellwach. Das Adrenalin rauscht durch meinen Körper und ebbt erst ab, nachdem die Crew sich ein Dutzend Mal bedankt hat. In den Gesichtern ist deutlich zu erkennen wie froh auch sie sind, dass alles gut gegangen ist. „Merci vielmals – und schönen Urlaub!“ Den werde ich haben, doch das Geschehene wird mich noch einige Tage weiter beschäftigen. Was hätte ich anders, was besser machen können? Wie geht es der Patientin inzwischen und was konnte in der Klinik herausgefunden werden? Fragen, auf die ich keine Antwort erhalten werde, doch eine kann ich mir inzwischen beantworten: Egal wie wenig du glaubst zu wissen, es genügt, um im Ernstfall helfen zu können. Du musst dich nur trauen.