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  • Diana Fechner
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  • 22.11.2022

Wie viel Praxis findet sich im Modellstudiengang wirklich?

Ein Bericht über die praktischen Unterrichtsmodelle des Studiengangs Humanmedizin an der Charité Berlin.

 

 

Die Frage nach der Wahl des Studienorts ist für Medizinstudierende in Deutschland oft mit vielen Einschränkungen verbunden: Die Zulassung zum Studium wird Bewerber*innen nicht leicht gemacht und hängt von Faktoren wie der Abiturnote, dem TMS-Ergebnis und anderen Bonierungen ab. Dies führt schnell dazu, dass man manchmal nicht selbst zwischen Leipzig und Hamburg entscheidet, sondern die unerbittlichen Algorithmen und Berechnungen Hochschulstarts es tun.

Was aber, wenn einem die Entscheidung bleibt? Wenn man mit gezielter Punkteberechnung und etwas Glück damit rechnen darf, auf Hochschulstart mehrere Angebote zu erwarten?

In dieser Situation fand ich mich im September 2020 wieder - Berlin, Heidelberg oder München war die große Frage; Pro-Contra-Listen wurden angefertigt, sämtliche bekannte Studierendenberichte gelesen und das Internet nach Berichten zum Modellstudiengang durchforstet. Letztendlich waren Zweifel des eigentlich immer feststehenden Studienorts Heidelberg gesät und am Ende fiel die Entscheidung, die nächsten sechs Jahre in einer anderen Universitätsstadt zu verbringen - meiner Heimatstadt, Berlin.

Die schlussendliche Entscheidung für die deutsche Hauptstadt als Unistadt hatte monumentale Verbindung zum Studienaufbau an der Charité - dem sagenumwobenen Modellstudiengang, indirekt hervorgegangen aus dem damaligen “Reformstudiengang“. Was sich seitdem geändert hat und wie der Praxisbezug bereits in den ersten Semestern des Humanmedizinstudiums heutzutage an der Charité aussieht, erfährst du in diesem Artikel.

 

Was meint “Praxis” eigentlich?

Vorlesungen, Seminare und Praktika - diese Lehrveranstaltungen hat fast jede medizinische Fakultät in Deutschland im Lehrplan stehen. Was den Modellstudiengang so besonders - und allerdings nicht unbedingt einheitlich - macht, sind die klinischen Bezüge in den ersten Semestern. Diese praktischen Elemente des Modellstudiengangs Medizin umfassen an der Charité mehrere Veranstaltungen des Lehrplans, die über die Semester hinweg verschieden große Rollen einnehmen.

Was an Regelstudiengang-Unis ab dem 5. Semester den Übergang in die Klinik darstellt, ist an der Charité das Erste, was die Studierenden ans Krankenbett zitiert: der Untersuchungskurs, im Studierendenjargon auch “U-Kurs” genannt. Hier erlernen die frischgebackenen Studierenden zum einen, Anamnesen zu erheben - die Erfragung der Krankengeschichte - und zum anderen, die ersten körperlichen Untersuchungen durchzuführen. Diese besteht aus der sog. IPPA - Inspektion, Palpation, Perkussion und Auskultation. Da man Letzteres in der Regel mit dem Stethoskop durchführt, dürfen sich die Berliner Studierenden bereits stolz am ersten Tag des Studiums mit dem ärztlichen Wiedererkennungsmerkmal Nummer Eins schmücken - ganz, ohne belächelt zu werden. Die Untersuchung selbst findet zunächst an Kommilitonen und Kommilitoninnen statt, danach, je nach Möglichkeit, auch an echten Patientinnen und Patienten - was den meisten Erstis Herzklopfen beschert. Echte Patientinnen und Patienten sehen und untersuchen, bereits in der ersten Woche? Die Charité macht’s möglich. Der Untersuchungskurs wird im 5. Semester vom sog. “UaK” abgelöst, dem Unterricht am Krankenbett, der die bereits erworbenen Kenntnisse in der Patientenuntersuchung vertieft. Dieses Lehrformat macht den Großteil des praktischen Lernens, wie man ihn sich vorstellt, im Kittel und mit Stethoskop, aus. Alles in allem ist der wöchentlich stattfindende Untersuchungskurs das Highlight vieler Studierenden in den ersten Semestern und eine willkommene Abwechslung zu den anspruchsvollen theoretischen Grundlagen zu Beginn des Medizinstudiums.

Eine weitere praktische Lehrveranstaltung, auf die sich Studienanfänger*innen in den altehrwürdigen Hallen der größten Universitätsklinik Europas direkt zu Beginn des Semesters freuen dürfen, sind die sog. Notfallkurse. Hier wird den unerfahrenen Medizinstudierenden das theoretische und praktische Verhalten in Notfallsituationen beigebracht, sodass jeder Einzelne nach dem Kurs Techniken von Heimlich-Manöver bis Tourniquetanbringung beherrscht und idealerweise auch im Alltag anwenden kann. Dass einem ohnmächtigen Fußgänger zu helfen allerdings eine andere Situation ist, als im gut ausgeleuchteten Seminarraum den kichernden Kommilitonen in die stabile Seitenlage zu bringen, lernen Studierende spätestens, wenn sie selbst einmal in die Situation geraten, Ersthelfer*in zu sein.

Ebenfalls immens hilfreich für die klinische Tätigkeit, spätestens nach dem Studium, sind die Lehrveranstaltungen “POL” und “KIT”. “POL” steht für Problemorientiertes Lernen. Hier steht vor allem das eigenständige Denken und Lernen im Vordergrund - wöchentlich werden hier ab dem ersten Semester unter Aufsicht verschiedene klinische (theoretische) Fälle präsentiert, wobei die Studierenden dabei aufgefordert werden, sich selbst und im Austausch mit Kommilitonen und Kommilitoninnen Gedanken über mögliche Untersuchungsverfahren, Diagnosen und Therapiemöglichkeiten zu machen. Ziel ist hier vor allem das selbstständige Denken - ein Prozess, der im streng vorgegebenen Medizinstudium durchaus einmal zu kurz kommt. “POL” ist ein besonderes Lehrformat - hier werden Studierende als werdende Ärztin und Arzt, als bereichernder Mensch, wahrgenommen, ungleich den starr theoretischen Fächern, in welchen Mitarbeit eher ein Mittel zum Zweck darstellt, anstatt das Ziel zu sein.

“KIT” stellt die Abkürzung für Kommunikation, Interaktion, Teamarbeit dar - ein Lehrformat, das sich darauf spezialisiert hat, die ärztliche Gesprächsführung und Kommunikation im späteren Klinikalltag zu erleichtern. “KIT” bringt Studierenden mit Watzlawicks Kommunikationsaxiomen, dem Erlernen einer sensiblen Gesprächstaktik im Umgang mit kranken Menschen und Gesprächen mit Simulationspatienten und -patientinnen etwas Abwechslung in den Alltag mit Haworth-Darstellungen und abendlichem Pipettieren im Labor. “KIT” ist eine tolle Möglichkeit, einen im Studium sonst oft vernachlässigten Teil, der gleichzeitig für viele Patientinnen und Patienten das A und O in der Bewertung der ärztlichen Betreuung darstellt, auszubauen: das Gespräch mit den Patientinnen und Patienten, die Visite in der Klinik, den Dialog im Hausarztzimmer.

 

Und was gibt es noch?

Ebenfalls einzigartig an der Charité und gerade für angehende Wissenschaftler*innen besonders interessant ist ein Modul, das im zweiten Semester vier Wochen lang gelehrt wird: das sog. “Wissenschaftliche Arbeiten”. Dieses Format besteht aus drei Modulen, von welchen der zweite sogar einen Teil des Physikumsäquivalentes abdeckt. Hier geht es darum, die Arbeit und den Alltag in der Wissenschaft ein wenig näher kennenzulernen - ein wichtiges Format, wenn man bedenkt, wie viele Medizinstudierende immer noch einen Doktorgrad anstreben, ebenfalls nichts anderes als ein Beitrag zur Wissenschaft.

 

Der Studienaufbau

Auch der Studienaufbau unterscheidet sich seit über zwanzig Jahren maßgeblich von anderen Universitäten - klassische “Fächer” wie Anatomie oder Biochemie existieren in der Reinform nicht mehr, diese sind nunmehr eingebettet in Themen. Ein Beispiel: Das Thema “Bewegungsapparat” (an der Charité nennt man diese Themen “Module”) nimmt vier Wochen im Lehrplan der Charité ein. Hier lernt man nicht etwa nur den makroskopischen Aufbau des Bewegungsapparates, sondern das Thema im Zusammenhang mit anderen Fachdiziplinen - von A wie Anatomie über T wie Trendelenburg-Zeichen bis Z wie Zytokine des Knochenstoffwechsels. Jedes Modul dauert genau vier Wochen, jedes Semester umfasst jeweils vier Module. Und allem Praxisbezug und dem hochmodernisierten “Modellstudiengang” zum Trotz, zeigt sich im Aufbau des Studiums eine Tendenz: Je länger man studiert, desto weniger Grundlagenfächer und -module spielen eine Rolle, gerade in den späteren Semestern sind klinische Aspekte, Erkrankungen und Blockpraktika in Kliniken und Ambulanzen von großer Bedeutung. Der charitéische Studienaufbau gliedert sich gewissermaßen nach dem Leitfaden “Wie funktioniert ein gesunder Mensch?” zu “Wie sehen erkrankte Patientinnen und Patienten aus und wie kann ich ihnen helfen?”.

Die Charité bietet Studierenden eines der spannendsten Studienfächer der Welt und gleichzeitig eine der besten Ausbildungen zum Mann oder Frau im weißen Kittel. Untersuchungskurse und Kommunikationstraining lehren nicht nur Fakten und Axiome, sie vermitteln unentbehrliche Fähigkeiten des Arztberufs; lehren die Fähigkeit, Theorie mit baren Händen anzuwenden und – letztendlich – auch ein etliches Stück Dankbarkeit und Demut vor dem Beruf, den wir erlernen dürfen.

 

 

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