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- Alisha Qamar
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- 19.08.2025
Interview mit Tankred Stöbe, ehem. Präsident von Ärzte ohne Grenzen
Viele angehende Medizinstudierende als auch Ärztinnen und Ärzte träumen davon, eines Tages für Ärzte ohne Grenzen zu arbeiten und sich in der humanitären Hilfe zu engagieren. Tankred Stöbe ist Internist, Intensiv- und Notfallmediziner und ehemaliger Präsident von Ärzte ohne Grenzen. Seit vielen Jahren ist er für die Organisation im Einsatz. Wie die Arbeit konkret abläuft, was sie besonders bereichernd macht und wie man selbst zu Ärzte ohne Grenzen kommt, erfährst du hier.

> Herr Stöbe – wer sind Sie und wie hat Ihr Weg Sie in die Medizin geführt?
Mein Name ist Tankred Stöbe, ich bin in Nürnberg geboren und am Bodensee aufgewachsen. Nach der Schule wusste ich erstmal nicht genau, wohin es gehen sollte – es gab viele Ideen. Also habe ich mich an einer Schauspielschule beworben, aber schnell gemerkt, dass das nicht mein Weg ist. Stattdessen bin ich auf eine längere Reise gegangen nach Australien, Neuseeland und Fidschi. Auf dieser Reise stellt ich mir häufig die Frage, wie es beruflich weitergehen soll. Mir war klar: Ich möchte Verantwortung übernehmen, mit Menschen arbeiten und die Extremsituationen zwischen Leben und Tod kennenlernen. Also habe ich eine Krankenpflegeausbildung in Hamburg begonnen, danach in Greifswald Medizin studiert, dort im Dreibettzimmer mit anderen Studierenden gelebt und mein Medizinstudium in Witten-Herdecke abgeschlossen. Meine Facharztausbildung habe ich nach dem Studium in der Inneren Medizin begonnen, weil es für mich ein weites, spannendes Fach ist, in dem kein Ende des Wissens absehbar ist.
> Wie kam es dazu, dass Sie sich bei Ärzte ohne Grenzen beworben haben?
Auf Empfehlung eines Freundes bewarb ich mich mit Anfang 30 bei Ärzte ohne Grenzen. Ich habe mich informiert und bin in das Büro nach Bonn gefahren. Dort wartete ein sehr ausführliches Interview auf mich, in dem es vor allem um ethische und Konfliktfragen ging – Fragen, mit denen man sich als Arzt in Deutschland wenig auseinandersetzen muss. Nach dem Gespräch war ich mir unsicher, ob ich wirklich genommen werde und war umso glücklicher als dann die Zusage kam. So habe ich dann mein Leben in Deutschland buchstäblich abgemeldet – Freunde und Familie verabschiedet, mein Auto stillgelegt und meine Wohnung gekündigt. Es brauchte viel Mut, diese Entscheidung zu treffen.
Mein erster Einsatz war 2002 in einem Cross Border Projekt. Dort lebte ich in dem kleinen Ort Sanklaburi und arbeitete zwischen Thailand und Myanmar. Dort haben wir Menschen mit Malaria behandelt und Schlagenbisse versorgt – oft unter schwierigsten Bedingungen und ich war der einzige Arzt vor Ort. Dies war ein Schritt in das Unbekannte – fast ein bisschen so wie vom Bodensee nach Greifswald. Da ich für meine Einsätze meine Facharztweiterbildung kurzzeitig unterbrechen musste, bewarb ich mich erneut auf Weiterbildungsstellen. Da der Arbeitsmarkt damals noch anders aussah als heute, musste ich länger warten, sodass ich die Wartezeit in einem Ärzte ohne Grenzen Einsatz in Nepal und Liberia verbracht habe. Darauf folgten weitere Anfragen von Ärzte ohne Grenzen und alles nahm seinen Weg.
> Hatten Sie vor Ihrem ersten Einsatz schon Erfahrungen in der humanitären Hilfe?
Nein. Ich habe zwei Famulaturen in Afrika gemacht und mein PJ in Indien. Das hat mein Interesse geweckt, Medizin in einem anderen Kontext zu erleben. Aber ich wollte erst wieder im Ausland arbeiten, wenn ich wusste, dass ich auch wirklich helfen kann. Also habe ich erst ein paar Jahre in Deutschland gearbeitet, um etwas sattelfest in meinen Kompetenzen zu sein.
> Wie sieht der gesamte Ablauf aus – von der Erkennung einer Krise bis zum Einsatz von Ärzte ohne Grenzen vor Ort? Und wie werden die Einsätze vor sowie nach dem Einsatz organisiert und nachbereitet?
Es gibt sogenannte Erkundungsprojekte. Tritt ein neuer Konflikt auf oder eine unerwartete Naturkatastrophe, begeben sich Mitarbeitende von Ärzte ohne Grenzen in das Krisengebiet zu einer Bedarfserkundung. Unsere eigenen Leute gehen dorthin und machen ein Assessment darüber, mit welchem personellen Aufwand und auch welche Ressourcen dort gebraucht werden. Dies nimmt Stunden bis wenige Tage in Anspruch. Innerhalb kürzester Zeit werden dann umfangreiche Hilfslieferungen sowie Helfende losgeschickt, innerhalb weniger Tage werden signifikante Hilfsprojekte initiiert. Für Gebiete die von schweren Naturkatastrophen betroffen sind, wie die Zerstörung der Zugangswege durch ein Erdbeben wie in Myanmar im März diesen Jahres, braucht es eine gute Logistik. Das sind ganz eindrucksvolle Momente, wenn Projekte neu initiiert werden, weil dabei sichtbar wird, wie schnell geholfen werden kann – der Faktor Zeit ist nämlich ganz elementar.

Tankred Stöbe in seinem Tukul: Lehmhütte mit Strohdach
> Wie sieht Ihr Arbeitsalltag während eines Einsatzes aus?
Der Alltag ist natürlich sehr unterschiedlich, je nach Projekt. Mal war ich als einziger Arzt in einem kleinen Team an der Grenze zu Myanmar und habe Malaria behandelt oder Schlangenbisse versorgt. In der Ukraine bin ich als medizinischer Koordinator für rund 300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entlang der Front verantwortlich. Da geht es um Organisation, Priorisierung, Sicherheit und ganz oft auch darum, in schwierigen Situationen schnelle Entscheidungen zu treffen.
> Wie gehen Sie mit Situationen um, in denen Ressourcen fehlen und schwierige Entscheidungen getroffen werden müssen?
Es gibt kaum eine Krise, in der wir genug Hilfsmittel haben. In fast allen Krisengebieten ist die medizinische Not um ein Vielfaches höher als unsere Hilfsmittel. Das Dilemma ist dann folgendes: Wie können wir das Wenige, was wir haben, am sinnvollsten an die Bedürftigsten verteilen? Das klingt logisch und einfach, in der Umsetzung ist es aber unfassbar schwierig. Die großen Konfliktherde – Ukraine, Sudan, Gaza – verbessern sich seit Jahren nicht. Und all die weiteren Krisen, die wir nicht sehen, haben kaum eine Chance auf eine Lösung, wenn sie keine Aufmerksamkeit bekommen. Es gibt insgesamt zu wenig Wahrnehmung für das Leid in der Welt – die wohlhabenden Länder schotten sich immer mehr ab.

Verteilung von Hilfsmitteln an Binnenvertriebene Sudanesen
> Gab es Momente, in denen Sie ans Aufgeben gedacht haben?
Jeder Einsatz bietet Momente, in denen ich überfordert bin und nicht weiter weiß. Diese Überforderung ist berechtigt und eine gesunde, menschliche Reaktion auf eine frustrierende, teilweise auch aussichtslose Situation. In der Ukraine stellen wir uns immer wieder die Frage, wie nah wir mit unseren Hilfsmaßnahmen an die Front gehen sollten, wo die medizinische Not am größten, die Gefahr aber auch um einiges höher ist.. Diese Frage lässt sich nur konkret und situationsangepasst beurteilen. Im Mai hatten wir folgende Situation: Ein ziviler Bus wurde von einer Drohne bombardiert, es gab viele Tote und Verletze. Das örtliche Krankenhaus bat uns explizit um psychologische Hilfe, da es bereits genug chirurgische Unterstützung gab. Also haben wir uns im Team mit den Psycholog*innen zusammengesetzt und die Situation besprochen. Die Risiken waren allen Beteiligten bekannt und die Psycholog*innen gingen das Risiko ein.
Sie sprachen mit Dutzenden Betroffenen und linderten ihren Schmerz und das Leid. Zu sehen, wie diese Kurzintervention geklappt hat, gibt Mut und Zuversicht. Für diese Zusammenarbeit bin ich sehr dankbar – und merke, dass in Ausnahmesituationen alle an einem Strang ziehen. Alle sagen „Wir kennen die Risiken“ und „Wir kennen diesen Krieg“ und auch „Wir gehen das Risiko ein“. Alle Kolleginnen und Kollegen kamen unbeschadet wieder zurück. Natürlich wäre es furchtbar, wenn etwas passiert wäre. Als Ärzte ohne Grenzen versuchen wir, die Risiken abzuschätzen, zu minimieren und einander zu schützen und halten möglichst Abstand von direkten Gewaltszenen. Aber natürlich spielt dabei auch Glück eine große Rolle.
> Gibt es psychologische Unterstützung für Helfer*innen?
Ja, vor, während und nach den Einsätzen gibt es Tag und Nacht Notfalltelefonnummern, die immer besetzt sind. Wir können dort mit Fachleuten sprechen und Hilfe holen. Nach den Einsätzen gibt es regulär auch ein Debriefing, das heißt eine Nachbesprechung des Einsatzes, bei dem psychische Aspekte in Betracht gezogen werden. Zum Glück habe ich die psychologische Hilfe bisher nicht gebraucht. Ich bin als Helfer aus Berlin aber auch privilegiert, meine Grundbedürfnisse wie Nahrung und Unterkunft sind gesichert und anders als die Menschen in den Krisengebieten, bin ich nicht auf ewig dort. Die seelische Not der Mitarbeitenden ist in meinen Augen geringer als die der Betroffenen vor Ort. Bei schweren Sicherheitszwischenfällen, haben wir Psycholog*innen im Krankenhaus als Ansprechpartner für alle Mitarbeitenden.
> Herr Stöbe, was war ihr prägendster Einsatz?
Diese Frage zu beantworten ist ganz schwierig. Es gibt kaum einen Einsatz, der mich nicht beeindruckt hat. Einige Einsätze waren vielleicht intensiver als andere, aber ich komme jedes mal bereichert wieder nach Hause. Eine herausragende Erfahrung war dennoch der Aufbau einer kleinen Klinik in einer Höhle in Syrien im Jahr 2012 sowie die erstmalige Entsendung von Rettungsschiffen ins Mittelmeer in 2015, für die Rettung der Schiffsbrüchigen vor der Küste Lybiens. All die Konflikte prägen und beschäftigen mich noch lange. Dies wird zeitlebens Teil meiner Erinnungslandschaft bleiben.
> Was bedeutet es für Sie persönlich, aus einem Einsatz zurückzukehren?
Es ist jedes Mal ein großes Glück, gesund und unbeschadet zurückzukommen und meine Familie wiederzusehen. Ich liebe Berlin, ich genieße alles hier: die Kultur, das Essen, die Freiheit, überall hingehen zu können, ohne Angst haben zu müssen. Nach einem Einsatz wird einem das besonders bewusst und dieses Gefühl begleitet mich wirklich über Wochen. Vor Ort kann ich als Arzt etwas bewirken: Tod abwenden, Leid lindern. Das gibt mir eine ganz andere berufliche Befriedigung, als ich sie in Deutschland erlebe, wo wir oft nur ein kleines Rädchen im großen System sind.
> Wie hat die Arbeit bei Ärzte ohne Grenzen Ihre Sicht auf die Medizin verändert?
Es gibt eine Riesendiskrepanz zwischen dem deutschen Gesundheitssystem und der Versorgungslage wie in Gaza, Ukraine, Sudan oder Haiti. Wir in Europa verschließen immer mehr die Grenzen und hören den Menschen nicht mehr zu, streichen Entwicklungsgelder, statt mehr Verständnis für notleidende Menschen zu zeigen. Bisher gültige Grundsätze, wie dass die Privilegierten den weniger Privilegierten helfen, verschieben sich. Um die Welt ein Stück gerechter zu machen, dürfen wir globale Solidarität nicht wegdenken. Und trotzdem nimmt sie derzeit ab.
> Wie beeinflussen Ihre Einsätze Ihr Privatleben?
Ich bin verheiratet und wir haben zwei kleine Kinder. Es gibt keinen Einsatz, der nicht zu Diskussionen mit meiner Familie führt. Ich war bereits zwei Mal in Gaza, seit Oktober 2023 habe ich aber wiederholt Einsätze dorthin abgelehnt. Ich kann mit meiner Familie die Sicherheit für Helfende in der Ukraine diskutieren, aber in Gaza eben nicht, das ist derzeit der gefährlichste Ort der Welt. Auf der anderen Seite habe ich bereits bei über 30 Einsätzen viel Zufriedenheit in der Arbeit empfunden. Der Abschied fällt mir mit Kindern noch schwerer, aber dafür ist das Wiederkommen umso herzlicher. Das nächste Projekt steht vermutlich im August/September diesen Jahres an – ich bin gespannt, wie es weitergehen wird.
> Was haben Sie über sich selbst gelernt, was Sie ohne diese Arbeit nie erfahren hätten?
Dass wir Menschen uns im existenziellen Sinn sehr ähnlich sind – unabhängig der Herkunft, Religion oder Hautfarbe. In Krisen verschwinden diese Unterschiede. Es geht um Leben und Tod, da sind wir alle gleich verletzlich. Ich habe gelernt, wie wichtig Solidarität ist.
> Wie fühlt es sich an, nach einem Einsatz wieder in Deutschland zu arbeiten?
Mich befriedigt die Arbeit als Notfallmediziner in Deutschland – umgeben von neuesten Erkenntnissen, neuester Technik, neue Prozeduren zu lernen und Menschen hier zu helfen und optimal zu versorgen. Auf der anderen Seite muss ich anerkennen, dass die Arbeit in Deutschland und mit Ärzte ohne Grenzen zwei vollkommen verschiedene Realitäten sind – Hochleistungsmedizin vs. Humanitäre Hilfe – von einem Vergleich sehe ich ab, denn der führt zu nichts. Ich muss anerkennen, dass es dramatische Unterschiede gibt. Ich arbeite in Deutschland als Akutarzt und bin im Kontext der humanitären Hilfe eben dort als Akutarzt vor Ort.
Uns würde es allen gut tun, immer mal wieder über die Grenzen zu gehen und das eigene Leben und die eigenen Ansprüche ins Verhältnis zu setzen mit anderen Teilen der Welt. Wir sind heutzutage besser global vernetzt als jemals zuvor und können zu jedem Zeitpunkt wissen, wie es in jedem Winkel der Welt aussieht –wenn wir daran Interesse haben. Ich verstehe natürlich, wenn Menschen müde sind und sagen, sie können sich nicht mehr über die vielen Krisen informieren. Für mich kann ich sagen, dass es mir hilft, mein eigenes Leben ins Verhältnis zu setzen mit größeren Nöten der Welt – die eigenen Probleme wirken schnell kleiner und ich werde dankbarer.
> Was würden Sie jungen Menschen, die Ärzt:Innen ohne Grenzen werden wollen, raten? Welche Fähigkeiten sollte man mitbringen?
Erfahrungen in der Notfall- und Akutmedizin sind von Vorteil. Neugier und Interesse an anderen Menschen und Kulturen. Zusätzlich sind Sprachkenntnisse, insbesondere Englisch und Französisch, sehr wichtig. Daher – wer Französisch in der Schule hatte – bloß nicht die Sprachkenntnisse verrosten lassen! Grundsätzlich braucht es eine Willensanstrengung: Wer einen ungewöhnlichen Karriereweg gehen will, muss Eigeninitiative aufbringen. Ich kann ermutigen, über die Grenzen zu gucken und ohne Grenzen zu denken und zu arbeiten. Wir leben in einem globalen Dorf – dies sollten wir leben und anerkennen. Wir sind uns alle im existentiellen Sinne ähnlich – Unterschiede wie das Geschlecht, die Ethnie, die Hautfarbe fallen weg, wenn es um Leben und Tod geht. Egal ob Menschen in Syrien, Schiffbrüchige im Mittelmeer, oder Betroffene der massiven Gewalt in Haiti – am Ende sind wir uns als Menschen ähnlich.

Sudan-Eisatz 2024
> Herr Stöbe, herzlichen Dank für dieses wunderbare Interview, die sehr spannenden Einblicke in Ihre noble Arbeit und Ihre Zeit!