- Artikel
- |
- Beyza Saritas
- |
- 09.05.2022
Das Ende ist in Sicht
Beyza beendet in Kürze ihr viertes Studienjahr. In diesem Artikel schildert sie, wie sie mit gemischten Gefühlen ihrem letzten Jahr an der Uni entgegenfiebert.
Montag, 06.00 Uhr morgens. Mein Wecker klingelt gefühlt zum fünften Mal, natürlich im Minutentakt. Ich schmeiße mich, mehr oder weniger elegant, widerwillig aus meinem warmen Bett. Corona sei Dank bin ich immer noch nicht von zuhause ausgezogen, habe mich mittlerweile aber an das Pendeln gewöhnt. Das frühe Aufstehen nach mehr als zwei Jahren Online-Lehre ist dennoch gewöhnungsbedürftig. Im Schnellprogramm mache ich mich fertig und setze zögerlich einen Fuß vor die Haustür. Eiseskälte schlägt mir ins Gesicht. Ich dachte, wir hätten Mai? Am liebsten würde ich mich wieder von meiner warmen Bettdecke einlullen lassen, denn mir graut es schon vor dem Präsenzunterricht und dessen – stark schwankender – Qualität. Auch wenn ich Online-Lehre zu Beginn der Pandemie verteufelt habe, und das Sitzen vor dem Bildschirm nicht unbedingt förderlich für mein Prokrastinationstalent war, so muss ich mir doch eingestehen, dass das Studieren von zuhause aus manchmal doch ganz bequem war.
Die Deutsche Bahn hat wieder einmal Verspätung, aber das überrascht mich schon lange nicht mehr. Nach einigen Minuten fährt eine Bahn, die augenscheinlich aus dem letzten Jahrhundert stammt, langsam in den Bahnhof ein. Hinter einigen Maskengesichtern versteckt sich ein müdes Gähnen, während ich mir meinen Weg durch die Gänge bahne. Ich freue mich, als ich sehe, dass noch ein Zweiersitz frei ist – jetzt kann ich mir wenigstens die Folien der Dermatologie-Vorlesung angucken, ohne dass ich angeschaut werde, als wäre ich ein Alien, falls doch jemand einen Blick auf meinen Bildschirm erhascht. Hyperkeratotische Füße im Rahmen einer Psoriasis sind wohl doch nicht jedermanns Sache am Morgen.
Hinter mir sitzen zwei Mädels, deren Gesprächen ich ungewollt ausgesetzt bin. Sie sind vielleicht ein bis zwei Jahre jünger als ich und scheinbar relativ frisch an der Uni. Eine der beiden erzählt, dass sie vorgestern versehentlich in die falsche Bahn eingestiegen sei. Schmunzelnd muss ich plötzlich an meine erste Uni-Woche denken, in der ich mich plötzlich halb schlafend in Wuppertal vorgefunden habe. Bahn fahren will halt gelernt sein. Zwei Stationen später steigt eine der beiden aus, und meine Aufmerksamkeit verlagert sich auf die Landschaft außerhalb des Bahnfensters. Verträumt blicke ich hinaus, betrachte die hartnäckigen Regentropfenflecken, die wohl das Abbild monatelang ungeputzter Scheiben darstellen, und denke dabei an Begriffe wie Eisenbahnnystagmus.
Die Vorklinik, und damit unter anderem die Physiologie, scheinen Jahre zurückzuliegen. Dabei habe ich erst letztes Jahr mein Physikum gemacht. Für Physiologie habe ich mich anfangs nicht wirklich begeistern können, ihren Nutzen und Sinn jedoch später liebgewonnen. Die Rapsfelder, an denen wir vorbeifahren sind von einer dichten Nebeldecke überzogen, ab und zu blitzen hell- und dunkelgrüne Bäume und Büsche hervor. Heute erscheint der Himmel als wolkige, trostlose Masse, durch die ab und an ein schmaler Sonnenstrahl hervorlugt.
Zurück zu den Dermatologie-Folien. Als sich an der nächsten Station doch jemand neben mich setzen möchte, fühle ich mich etwas unbehaglich und schmeiße den Plan, mir überhaupt irgendwelche Uni-Unterlagen anzuschauen, wieder über Bord. Nächsten Monat schreibe ich meine letzte Klausur im achten Semester. Verrückt, denke ich. Einfach verrückt. Ich erinnere mich oft an eine Situation aus meinen ersten Uni-Tagen zurück. Ich und zwei Kommilitoninnen kamen auf dem Weg zur Bib ins Gespräch mit zwei Medizinstudierenden aus dem achten Semester. Ich weiß noch, wie fasziniert ich davon war, dass die beiden bereits so weit fortgeschrittenen in ihrem Studium sind. „Achtes Semester heißt ja schon fast fertig mit dem Studium“, habe ich damals beinahe ehrfürchtig gesagt. Verlegen haben mir beide zugelächelt und schulterzuckend, wenn auch nicht ganz überzeugt von dieser Aussage, bejaht. Mittlerweile kann ich nur allzu gut verstehen, was den beiden an diesem Tag durch den Kopf gegangen sein mag.
Bereits mehr als die Hälfte des Studiums hinter sich gebracht zu haben, und gefühlt doch nichts im Hinblick auf ein so breites Feld wie die Medizin zu wissen, ist ein allgegenwärtiges, manchmal auch beängstigendes, Gefühl. Wenn wir ehrlich sind, glaube ich auch nicht, dass mich dieses Gefühl bis zum Ende des Studiums jemals loslässt. „Lebenslanges Lernen ist ein Teil des Lebens“ – das hat mein Vater mir nicht nur einmal gesagt. Das Medizinstudium, aber auch die ärztliche Tätigkeit, sind quasi der Inbegriff des lebenslangen Lernens. Was heute noch brandaktuell ist, ist morgen manchmal schon gar nicht mehr gängig. Wer mit Entwicklungen mithalten und up-to-date sein will, muss weiterlernen, sich stetig fortbilden.
In einigen Wochen werde ich das achte Semester des Medizinstudiums mit einem lachenden und einem weinenden Auge beenden. Auf der einen Seite begleitet mich stets ein großes Gefühl der Dankbarkeit, denn ich habe das Privileg, mir dieses medizinische Wissen aneignen zu dürfen und mich irgendwann einmal Ärztin zu nennen. Auf der anderen Seite hingegen vergeht die Zeit rückblickend viel zu schnell. Zwischen dem Abitur und dem Ende des Studiums liegt quasi nur ein Katzensprung. Noch zwei Semester an der Uni – das sind nicht einmal 365 volle Tage. Dabei fühle ich mich insbesondere hinsichtlich meines praktischen Wissens noch ziemlich unvorbereitet. Während ich bei meinen letzten Famulaturen noch zu PJlern aufgeblickt habe – für mich waren es ja quasi schon fast Mediziner*innen – werde ich nächstes Jahr selber PJlerin, Medizinstudentin im letzten Jahr, sein. Bis dahin gilt aber, noch ein Jahr an der Uni und das zweite Staatsexamen, das ich gerade mehr oder weniger erfolgreich in die hinterste Ecke meines Bewusstseins dränge, zu bestreiten.
„Wir erreichen gleich den Düsseldorfer Hauptbahnhof, Endhaltestelle. Wir bitten alle Passagiere auszusteigen.“, dröhnt es aus der Lautsprecheranlage der Bahn. Beinahe wäre ich eingenickt. Das Ende ist vielleicht noch nicht in greifbarer Nähe, aber in Sicht. Der Weg hin zum Arzt-Werden liegt näher als zum Ersti-Sein.