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  • Anne Latz
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  • 27.03.2015

Das Unmögliche möglich machen: Die Pioniere in Organ- und Gesichtstransplantationen am Brigham und Women’s Hospital

Lernen ist oftmals ganz schön anstrengend. Aber eigentlich weiß man ja, warum man sich das alles antut: man will ein guter Arzt werden. Als weiteren Ansporn stellt Anne Latz herausragende Persönlichkeiten vor.

Wir Medizinstudenten können auf unzählige Innovationen und Kenntnisse zurückgreifen, die wir als selbstverständlich ansehen und übernehmen. Die Faszination für neue Errungenschaften und Ideen ist groß, doch wir denken wenig darüber nach, wie die Medizin noch vor gar nicht allzu langer Zeit, vor 10, 20 30 oder 40 Jahren ausgesehen hat.

Das ständige Weiterdenken und Hinterfragen ist in der Medizin selbstverständlich. Vor allem an Unikliniken gehört die Forschung zum Alltag und zur akademischen Ausbildung. Doch es lohnt sich, einmal innezuhalten und zu reflektieren, was für den Patienten das Beste ist.

Natürlich führen aktuelle Erkenntnisse etwa zur Stammzellforschung und pränataler Diagnostik zu neuen Konflikten und dem berechtigten Einwand, dass es nicht der Sinn der (medizinischen) Forschung sein kann, wirklich alles möglich und beeinflussbar zu machen. Dennoch ist es schlichtweg faszinierend, zu realisieren, dass Menschen Organe transplantieren, ja sogar ganze Körperglieder und Gesichter ersetzen können und so vor allem den Personen helfen, die einen immensen Leidensdruck und akuter Lebensgefahr ausgesetzt sind.

Das alles wurde mir im Rahmen meiner Famulatur im Brigham und Women’s Hospital (BWH) in Boston noch einmal richtig deutlich. Das BWH ist ein Krankenhaus, das zur Harvard Medical School gehört und auf eine beeindruckende Forschungshistorie zurückblicken kann. Im Jahre 1990 wurde dem damaligen leitenden plastischen Chrirugen Joseph E. Murray für seine Entdeckungen in „organ and cell transplantation in the treatment of human disease“ der Nobelpreis der Medizin verliehen. Er teilt ihn mit E. Donnall Thomas und ist einer von bisher neun Nobelpreisträgern der Harvard Medical School.

Seine Auszeichnung ist einer der wenigen Nobelpreise, die für eine klinische, ja sogar chirurgische Errungenschaft in der Medizin vergeben wurde. Am 23. Dezember 1954 transplantierte er als erster Mediziner eine menschliche Niere, nachdem er durch seine Erlebnisse im zweiten Weltkrieg zur Forschung in dem Bereich inspiriert wurde, da er dort die Abstoßungsreaktionen von allogenen Hauttransplantationen beobachtete. Der Patient war ein 23 Jahre alter junger Mann, der die Niere seines Zwillingsbruders erhielt und dadurch noch acht Jahre weiterlebte. Durch die Eineiigkeit der Zwillinge konnte eine Abstoßungsreaktion des Organs vermieden werden, die Hauptkomplikation einer jeden Transplantation.

Seine Pionierarbeit setzte er fort, indem er die Operationen auf zweieiige Zwillinge ausweitete und an Möglichkeiten arbeitete, das Immunsystem des Empfängers zu unterdrücken. 1959 konnte erstmals die Niere eines nicht-identischen Zwillings transplantiert werden und 1962 die eines nicht verwandten Spenders. Dies war der Beginn einer medizinischen Errungenschaft, die bis heute Leben rettet.

Die positive Resonanz blieb jedoch zunächst aus – ähnlich wie die Stammzellforschung heute, riefen die ersten Transplantationen Ethiker zur Stelle, die die Transplantationen als einen Eingriff in das Menschliche sahen und solche „Experimente“ für unethisch hielten. Erst 1990 erhielt Murray durch die Verleihung des Nobelpreis die gebührende Anerkennung für seine Arbeit. Interessant an Joseph E. Murray ist neben seinen zweifelsfrei grandiosen medizinischen Errungenschaften, die das Leben unzähliger Patienten retteten bzw. verbesserten (seine zwei weiteren Leidenschaften waren die chirurgische Behandlung von Krebsleiden an Kopf und Nacken sowie die kraniofazielle Chirurgie) vor allem seine als einzigartig und mitreißend beschreibende Persönlichkeit. Er war nicht nur Arzt, sondern auch passionierter Familienmensch, liebender Ehemann, Vater von sechs Kindern, zuverlässiger Mentor und enthusiastischer Sportsmann. Seine Kollegen und Mitmenschen schätzten ihn als eine „spirituelle“ Führungskraft und einen guten Teamplayer, der sich der Unabdingbarkeit interdisziplinärer Teams bewusst war.

Neugierde und Leidenschaft trieben ihn ebenso an, wie ein unumstößlicher Optimismus, der ihn durch die langwierige Zeit seiner Experimente, Fehlversuche und gescheiterten Projekte trug. Wertschätzung spricht aus allen Personen, die sich über Joseph Murray äußern. Das zeigt einmal mehr, dass die Menschlichkeit und die intrinsisch gefühlte Verpflichtung dem Wohl der Gesellschaft zu dienen ebenso wichtig sind, einen erfolgreichen Weg zu gehen, wie medizinische Expertise.

Auch die aktuelle plastische Chirurgie am BWH reiht sich mit ihren Innovationen, Forschungsschwerpunkten und Operationen in die erste Reihe der Medizin ein. Die 2011 unter der Leitung von Bogdan Pomahac durchgeführte Gesichtstransplantation war die weltweit dritte und in den USA erste „volle“ Transplantation eines Gesichts. Dr. Pomahac gelingt es ebenfalls, ehrgeizige medizinische Meilensteine zu setzen und gleichzeitig Menschlichkeit, Wertschätzung und Begeisterung seinen Patienten und Kollegen gegenüber zu vermitteln.

Seine erfolgreichen Projekte, die Idee, ganze Gesichter zu transplantieren, wurden nicht von Anfang an und auch nicht von allen Seiten mit offenen Armen empfangen. Jetzt haben sie mehreren Menschen ein Antlitz wiedergegeben, das ein Leben und einen Alltag möglich macht. Er selbst spricht von seiner Arbeit als „Not life saving, but life giving.“

Gefördert wird diese Arbeit vom amerikanischen Verteidigungsministerium, das nach dem Irakkrieg zahlreichen Verletzungen von Gesicht und Schädel der Soldaten gegenübersteht und ein großes Interesse an Forschung und Hilfe im rekonstruktiven Bereich hat. Mittlerweile wurden bereits vier Patienten dieser Prozedur unterzogen, sodass das BWH derzeit weltweit führend im Bereich der vollen Gesichtstransplantationen ist:

 http://www.brighamandwomens.org/About_BWH/publicaffairs/news/facetransplant/default.aspx?sub=1

Auch diese Operationen begegneten einigen Kritikern und Zweiflern, die die ethische Integrität anzweifeln. Bei der Arbeit im BWH, das über ein großes Team an plastischen Chirurgen und zahlreiche Forschungslaboratorien verfügt, ist die Begeisterung für die Möglichkeiten des Fachs durchweg spürbar. Der Leidensdruck der Patienten und der unmittelbar sichtbare Erfolg der Prozeduren macht deutlich, dass diese Chirurgen nicht nur von intrinsischer Motivation getrieben werden, sondern Lebensqualität im höchsten Masse herstellen. Wer Interesse an rekonstruktiver Medizin hat, ist hier an der besten Adresse. Auch in Deutschland gibt es einige Zentren plastischer Chirurgie, die in dem Bereich führend sind und ein spannendes Spektrum bieten.

Zu Ehren des vor wenigen Jahren verstorbenen John E. Murray wurde eine Professur der plastischen und rekonstruktiven Chirurgie am BWH eingerichtet, die zur Zeit von Dr. Elof Eriksson bekleidet wird. In der alljährlichen Murray Lecture sprechen namhafte Plastische Chirurgen über den Stand der Forschung – in diesem Jahr Michael W. Neumeister der Southern Illinois University (Foto Mitte).

 

Gruppenbild - Foto: Susan R. Symonds for Mainframe Photographics

Vorne Zentral: Bogdan Pomahac (grauer Anzug), Michael Neumeister (lila Krawatte) und Elof Eriksson (rote Krawatte), Rest: Aerzte und wissenschaftliche Mitarbeiter der plastischen Chirurgie des BWH. Foto: Susan R. Symonds for Mainframe Photographics

 

Der von Murray gelebte Forschungsgeist und sein als unumstößlich beschriebener Optimismus sind bis heute im BWH spürbar. Es wird vermutet, dass über eine Millionen Patienten bis heute von Organtransplantationen profitiert haben – die Möglichkeit, durch chirurgische Mittel Organe zu transplantieren hat mittlerweile das Leben ganzer Familiengenerationen möglich gemacht. Wer eine Motivation fürs Lernen, Studieren und Arbeiten bzw. Forschen als Arzt sucht, sollte sich einmal kurz Zeit nehmen und sich den grandiosen Fortschritt der Medizin der letzten Jahre vor Augen führen!

Übrigens: Wer in Boston ist, sollte auch den Ether Dome besichtigen, der Ort der ersten Anästhesie im ebenfalls zur Harvard Medical School gehörenden Massachusetts General Hospital.

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