- Bericht
- |
- Christina Haß
- |
- 20.04.2016
In der Hausarztpraxis
„Medizinstudenten sollen Hausärzte werden und eine Praxis auf dem Land übernehmen“. So lautet die Devise, die viele Studenten aus den Pflichtveranstaltungen zum Thema Allgemeinmedizin an der Uni kennen. Dass Allgemeinmedizin aber auch richtig viel Spaß macht, hat Christina bei ihrem Hausarztpraktikum festgestellt.
© contrastwerkstatt-Fotolia.com
Der erste Tag
Ausgestattet mit Kittel, Stethoskop und Herold werde ich von dem netten Arzthelferinnenteam empfangen. Dr. Leupold* nimmt mich direkt mit in sein Sprechzimmer und schon geht es los: Der erste Patient wird hereingerufen: ein junger Mann mit Rückenschmerzen in der Lendenwirbelsäule, die derart stark waren, dass er in der vorigen Woche auf einen Hausbesuch angewiesen war. Zum Glück geht es ihm heute schon besser. Er kommt für eine Lidocain-Spritze gegen die noch bestehenden Schmerzen.
Dr. Leupold gibt mir einen interessanten Artikel über Kreuzschmerzen zum Lesen mit nach Hause und empfiehlt mir besonders die Leitlinien zu beachten. Innerhalb eines Jahres haben 70% der Erwachsenen mindestens eine Rückenschmerzepisode. Mir wird klar, dass es sehr schwierig ist, den Patienten zu vermitteln, dass man erstmal gar nicht so viel tun kann und es wahrscheinlich keinen Untersuchungsbefund gibt, der die Schmerzen erklären kann.
Die Testbatterie bei Kreuzschmerzen sollte nur ausgepackt werden, wenn es „red flags“ gibt, die auf schwerwiegende Ursachen für Kreuzschmerzen wie Infektionen, Frakturen, Tumoren oder ein Konus-Kauda-Syndrom hinweisen, die eine schnelle Behandlung erfordern. Aber auch „yellow flags“ gibt es zu beachten, z.B. Hinweise darauf, dass psychische Faktoren zu einer Chronifizierung des Schmerzes beitragen können.
Nach jedem Patienten besprechen wir das Krankheitsbild und die Therapie und ich kann meine Fragen stellen. Mir fällt auf, dass Dr. Leupold oft auf evidenzbasierte Medizin zurückgreift und sich auf Studienergebnisse beruft.
Alltag in der Praxis
Ab dem nächsten Tag bekomme ich eigene Patienten, die ich untersuche und anschließend Dr. L. mit einer Verdachtsdiagnose vorstelle. Zu Beginn bin ich aufgeregt und frage mich, ob die Patienten mich akzeptieren werden. Daher schaue ich mir zur Vorbereitung die medizinische Vorgeschichte jedes Patienten an und schreibe mir die Diagnosen und Medikamente auf um sie in der Anamnese zielgerichtet abzufragen. Anders als in der Klinik haben die Patienten in der Hausarztpraxis den Anspruch, dass der Arzt ihre individuelle Vorgeschichte genau kennt.
Das wird schwierig, wenn es viele Diagnosen gibt - zum Beispiel bei einem Patienten mit metabolischem Syndrom und Herzinfarkt. Der Hausarzt muss vieles im Auge zu behalten und Risikofaktoren abklären: Lifestylefaktoren wie z.B. Rauchen, Alkohol und kalorienreiche Ernährung; Laborwerte wie Triglyceride und Cholesterin, Blutzucker und HbA1c; regelmäßige EKGs und Blutdruckmessungen und bei erhöhten Leberwerten eine Sonografie.
Gleichzeitig muss er dem Patienten zu verstehen geben, dass dieser seine Gesundheit selbst beeinflussen kann und muss. Durch Lebensstiländerung und Therapieadhärenz können Schädigungen rückgängig gemacht oder das Fortschreiten einer Krankheit aufgehalten werden. Eine besondere Herausforderung sind Patienten, die wegen psychischen Problemen wie Depressionen oder Angststörungen kommen. Die Kunst besteht darin, eine angenehme Gesprächsatmosphäre herzustellen, sodass die Patienten von ihren Problemen berichten können. Dabei mache ich die Erfahrung, dass so ein Gespräch sehr interessant sein kann, aber viel Zeit braucht - die ein Allgemeinarzt mit vollem Wartezimmer nicht unbedingt hat.
Glücklicherweise sehe ich viele interessante Krankheitsbilder wie die Hand-Fuß-Mund-Krankheit, einen akuten Gichtanfall, einen Zoster im Verlauf und eine Virus-Hepatitis. Manchmal kann man die Diagnose nicht direkt stellen, sondern erst im Verlauf nach Überweisungen zu Fachärzten. Häufig kommen Patienten auch zur Blutentnahme um Laborwerte zu kontrollieren oder für Impfungen.
Patientenkontakt und Untersuchung
Natürlich sehe ich das typische Spektrum einer Hausarztpraxis: Erkältung, Sodbrennen und Kopfschmerzen. Hier kann ich die praktische Anwendung der Leitlinien umsetzen. Was gebe ich welchem Patienten in welchem Stadium? Welche Hausmittel können helfen? Wie lange soll welcher Patient krankgeschrieben werden? Fragen über Fragen!
Wichtig ist dabei vor allem die Erfahrung, denn ein Patient mit Erkältung muss nicht unbedingt zuhause bleiben, ein Patient mit akuter Sinusitis hingegen schon für drei Tage. Was ich gelernt habe und direkt an dich weitgebe: Exeu Kapseln helfen gut bei Sinusitis. Und Radieschen helfen gegen Sodbrennen!
Kopfschmerzen sind wirklich ein schwieriges Kapitel. Eine Patientin stellt sich mit Nackenschmerzen und leichtem Druckgefühl über dem Auge vor. Diagnose: Spannungskopfschmerz. Hier helfen vor allem die Lockerung der Nackenmuskulatur und die symptomatische Behandlung der Schmerzen mit Analgetika. Im Kopf behalten sollte jeder Arzt: Kopfschmerz kann als arzneimittelinduzierter Kopfschmerz durch eine zu häufige Einnahme von Schmerzmitteln an mehr als 10 Tagen im Monat entstehen (abzuklären sind: Analgetika, Triptane, Opioide).
Meine Aufgabe besteht in einer gründlichen Anamnese und symptomorientierten Untersuchung. Eine Patientin hat Oberbauchschmerzen linkseitig seit einigen Wochen. Die Schmerzen treten verstärkt auf, wenn die Patientin sich vorbeugt und sind auf ein kleines Areal beschränkt. Für die klinische Untersuchung zeigt mir Dr. Leupold den Carnett-Test: die Patientin gibt in Rückenlage den Punkt des Schmerzes an und der Arzt drückt darauf während die Patientin die Bauchmuskulatur anspannt. Der Test ist positiv, wenn der Schmerz provoziert werden kann (differentialdiagnostisch betrachtet wird ein viszeraler Schmerz bei Anspannung der Bauchwand schwächer).
Die Diagnose lautet chronischer Bauchwandschmerz durch Einklemmung eines Bauchwandnervs am lateralen Rand des Musculus rectus abdominis. An dieser Stelle machen die Nerven einen 90 Grad-Knick und treten aus tiefen Schichten um den Muskel herum an die Oberfläche. Die Therapie besteht in Injektion von Lidocain und Steroiden und führt bei mehrmaliger Anwendung rasch zu einer Besserung der Beschwerden. Der Fall ist eine unterdiagnostizierte Ursache von Oberbauchschmerz, da diese häufig den viszeralen Organen zugeschrieben werden und eine Überdiagnostik verursachen. Die Patientin kommt zweimal zum Spritzen wieder und gibt an, dass die Schmerzen deutlich besser geworden sind.
Akupunktur
Ein besonderes Angebot in der Praxis von Dr. Leupold ist die Akupunktur bei chronischen Rückenschmerzen und Schmerzen durch eine Kniegelenksarthrose. Die Akupunktur kommt aus der traditionellen chinesischen Medizin. Man geht davon aus, dass durch Stiche in definierte Punkte der Energiefluss des Körpers wiederhergestellt wird. Interessanterweise ist die Scheinakupunktur laut Studienlage genauso wirksam wie die Punkte aus der chinesischen Medizin.
Aus schulmedizinischer Sicht ist noch nicht eindeutig geklärt, wie Akupunktur eigentlich wirkt. Es gibt Theorien, dass Adenosin für den Effekt eine wichtige Rolle spielt, weil das Adenosin Level in gereiztem Gewebe deutlich gestiegen ist. Andere Studien konnten zeigen, dass Endorphine im Mittelhirn ausgeschüttet wurden. Seit längerem gibt es das Prinzip der Ohrakupunktur, die aus der Erfahrung von Dr. Leupold sehr wirksam ist. Die Patienten nehmen die Akupunktur gut an und berichten häufig über eine Besserung der chronischen Schmerzen. Eine Sitzung dauert etwa 30 Minuten und kann je nach Beschwerdebild optimal angepasst werden.
Jeder hat seine Geschichte
Ein Patient blieb mir ganz besonders in Erinnerung: ein junger Mann mit einem operierten Osteosarkom in der Kindheit und Beinprothese kommt mit vielen Diagnosen. Allen voran ein chronisches Schmerzsyndrom und eine Depression. Der Patient wirkt schmerzgeplagt und ruhelos. Er bittet um die Verschreibung eines Medikaments gegen beide Probleme und bekommt Duloxetin, ein Antidepressivum aus der Gruppe der Selektiven Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SSNRI).
Die Wirksamkeit ist fraglich, denn die vorhandene Schmerzmedikation ist schon beachtlich und der analgetische Effekt von Duloxetin nach neueren Erkenntnissen geringer als ursprünglich angenommen. Der Patient bekommt vor der Verschreibung noch ein EKG zum Ausschluss einer vorbestehenden verlängerten QT-Zeit, da dies eine unerwünschte Arzneimittelwirkung von Antidepressiva sein kann.
Viele Patienten kommen zum Hausarzt mit langen Vorgeschichten und Diagnoselisten. Trotz guter Anamnese nach Risikofaktoren und familiärer Belastung kann nicht bei jedem Patienten der Grund für die Erkrankung geklärt werden. Dadurch lerne ich intensiver über die Krankheitsbilder nachzudenken und verschiedene Erklärungsmodelle heranzuziehen. Manchmal liegt den körperlichen Beschwerden keine somatische Diagnose, sondern eine psychische Belastung zugrunde, die sich die Patienten nicht eingestehen wollen.
Typisch ist, dass Patienten mit somatoformen Störungen eine Vielzahl von verschiedenen und wechselnden Allgemeinsymptomen, Schmerzen und Beschwerden des Herz-Kreislauf-Systems oder Magen-Darm-Trakts angeben. Es kann aber keine körperliche Ursache für die Beschwerden gefunden werden, selbst nach gründlichster Diagnostik, die regelmäßig eingefordert wird. Diese Patienten kommen sehr häufig zum Hausarzt, man geht je nach Quellen von 20% des Klientels aus.
Mein Fazit
Für alle der Allgemeinmedizin voreingenommenen Studenten: ihr werdet euch sicher während des Studiums in einer Hausarztpraxis wiederfinden. Also sucht euch den Hausarzt gut aus und versucht viel mitzunehmen. Hier habt ihr Gelegenheit, viele Patienten zu befragen und untersuchen und bestimmt verschlägt es den ein oder anderen von euch in diese Richtung.
*Name von der Redaktion geändert