- Bericht
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- Text und Fotos: Marita Thiel
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- 18.06.2010
Sitzwache in der Uniklinik
Gerade weil das Medizinstudium nicht besonders viel Zeit für zeitraubende Studentenjobs am Tage übrig lässt, ist die Tätigkeit als Sitz- oder Beiwache bei Studenten im klinischen wie im vorklinischen Abschnitt gleichermaßen beliebt. Nicht jeder kann sich aber etwas darunter vorstellen. Deshalb bringt Marita mit der Beschreibung einer typischen nächtlichen Beiwache ein wenig Licht ins Dunkel.
19:30 Uhr
Es ist eine der ersten lauen Frühlingsnächte in diesem Jahr. Das Licht der Dämmerung taucht mein Arbeitszimmer in eine angenehme Atmosphäre. Gleich muss ich mich auf den Weg zu meiner Arbeit machen. Es ist ein typischer Studentenjob in der Uniklinik Freiburg. Seit einigen Monaten arbeite ich dort auf einer chirurgischen Station als so genannte Sitzwache.
20:45 Uhr
Ich gehe durch den großen Torbogen der Klinik, vorbei am Pförtner, der mir freundlich zunickt. Kurz darauf sitze ich auch schon in typischer Schwesternkleidung bei der Übergabe. Auch für mich liegt ein Übergabezettel bereit. Daraus gehen die wichtigsten Patientendaten zu Diagnose und Therapie in Kurzform hervor. An die hier vorherrschenden klinischen Abkürzungen musste ich mich allerdings erst gewöhnen. Da schrumpft der Aortenklappenersatz sprachlich zum AKE, die Mitralklappeninsuffizienz zur MKI und die periphere arterielle Verschlusskrankheit zur pAVK.
In der Ruhe der Nacht
Mit dem Pfleger Kai arbeite ich heute Nacht zusammen. Er informiert mich darüber, bei wem ich wann und wie oft BZ (Blutzucker), Blutdruck und Temperatur messen muss, wo BDK'S (Blasendauerkatheter) zu leeren sind und in welchem Rhythmus wir welche Patienten lagern werden.
22:00 Uhr
Ich bin mitten in meiner Routinearbeit. Das bedeutet Auffüllen von Verbands-, Durchgangs- und Wäschewagen sowie deren Oberflächendesinfektion. Zwischendurch gehe ich auf die Klingel. Übersetzt heißt dies im Pflegerjargon: zum Patienten gehen, wenn dieser klingelt.
Gerade will ich ein paar Infusionsbestecke mit Rückschlagventil in das dafür vorgesehen Fach des Durchgangswagens sortieren, da tönt erneut das eindringliche Klingeln über den Flur. Zimmer 123. Der Nachttisch von Herrn V. steht in für ihn unerreichbarer Ferne, und sein Kopfkissen ist ihm aus dem Bett gerutscht. Mit verlegenem Lächeln bittet er um Hilfe. Herr V. ist seit wenigen Wochen wegen einer schweren dilatativen Kardiomyopathie auf ein Kunstherz angewiesen, das so genannte Thoratec. Dieses Gerät übernimmt die komplette Herzfunktion. Damit ist er derzeit verständlicherweise nur eingeschränkt mobil. Schnell sind seine Wünsche erfüllt und wir unterhalten uns noch ein wenig über kleine und große Lebensräume und wie sich in diesen jeweils die Prioritäten verändern. Doch bevor wir in philosophisches Dickicht vordringen können, beendet das nächste Klingeln jäh unser kleines Gespräch.
Ordnung muss sein
23:00 Uhr
Langsam wird das Klingelkonzert zu einem Andante moderato. Die meisten Patienten schlafen bereits oder versuchen es zumindest. Ich reiche Kai die Werte, die ich bei den Patienten genommen habe. Die Blutzucker-Werte wurden zwar bereits über ein elektronisches Gerät direkt in die Computerakte des Patienten übermittelt, aber für das Eintragen in die Patientenkurve ist ein altmodischer Zettel nach wie vor der unkompliziertere Weg. Kai hat mittlerweile seine Runde durch die Zimmer beendet, hat Infusionen an- und abgehängt, Schmerz- und Schlafmittel verteilt und ist nun dabei, seine bisherige Arbeit und alles zu dokumentieren, was medizinisch relevant ist. Auch ich habe schon so manchen Gang erledigt, habe kleine und große Wünsche erfüllt und habe gemeinsam mit Kai Patienten gelagert, verschmutzte Bett- und Nachtwäsche ausgewechselt und hoffe, nun zügig meine weiteren Aufgaben erledigen zu können.
24:00 Uhr
Die drei Damen aus Zimmer 134 können nicht schlafen. Frau G. hat starke Schmerzen im Bein. Bei ihr wird gerade per Infusion eine Lyse durchgeführt, die einem Thrombus in der A. femoralis den Garaus machen soll. Ihre Nachbarin, Frau S., kann aufgrund einer frischen OP-Narbe auf dem Sternum nur auf dem Rücken liegen, was ihr als Bauchschläferin sehr zu schaffen macht, und bei Frau M. schlägt in regelmäßigen Abstand der Überwachungs-Monitor Alarm. Frau M. hatte eine AKS (Aortenklappenstenose) und hat vor wenigen Tagen eine neue Aortenklappe erhalten. Postoperativ kommt es vor allem nachts immer wieder zu Tachykardien. Kai weiß sie zu beruhigen, hält jedoch unverzüglich Rücksprache mit dem diensthabenden Arzt. Schließlich verabreicht er ihr auf Anweisung einen Beta-Blocker.
Auch die zwei weiteren Patientinnen werden bedacht: So bekommt Frau G. ein Schmerzmittel, und die Patienten S. bringen wir gemeinsam vorsichtig in ein für sie angenehmere Lage.
01:30 Uhr
Endlich Pause. Kai macht uns in der Mikrowelle eine Dosensuppe warm und ich staune mal wieder darüber, dass ich in diesen Nächten kaum Müdigkeit spüre. So sitzen wir fröhlich plaudernd am großen Tisch des Schwesternzimmers und löffeln unser Mitternachtssüppchen. Tagsüber herrscht hier wie auf der gesamten Station regsames Treiben. Nun ist alles still. Die Gänge sind menschenleer. Ich schätze diese nächtliche Ruhe mittlerweile sehr, denn sie gibt Gelegenheit, einem versierten Pfleger wie Kai Fragen zu stellen und an dem Know-How des erfahrenen Profis teilzuhaben.
Dem Profi auf die Finger geschaut
03:00 Uhr
Meine Routinearbeit ist erledigt. Kai erinnert mich, dass wir gleich nochmals einige Patienten umlagern, also in eine andere Liegeposition bringen müssen. Dies dient der Dekubitusprophylaxe.
Sein letzter Satz wird von einem jähen Klingen unterbrochen. "Dia Zi 145" steht auf dem großen Display, das im Flur unter der Decke hängt. Mal wieder ist es ein Monitor, der Alarm schlägt. Noch gut kann ich mich an meine ersten Nächte erinnern, als mich der durch die Monitore ausgelöste Alarm nahezu in einen Schockzustand versetzte. Mittlerweile weiß ich Dank der versierten Unterstützung des Pflegepersonals, worauf zu achten ist. Der Blick auf den Monitor verrät auch dieses Mal die Ursache des Alarms. Eine Elektrode hat sich gelöst. Schnell wird sie durch eine neue ersetzt und das Alarmsystem zeigt sich beruhigt.
05:00 Uhr
Anhand meiner Liste gehe ich durch die Zimmer, leere Blasendauerkatheter und notiere die dazugehörenden Werte. Als ich das Zimmer von Herrn T. betrete, vernehme ich ein verzerrtes Wimmern. Ich merke, wie mein Puls steigt. Ich mache etwas Licht im Zimmer und spreche Herrn T. laut an. Keine Reaktion. Nur immer wieder dieses seltsame: "UiUiUiUiUiUhhhuhhhuh". Als ich noch einmal laut seinen Namen nenne und ihn vorsichtig am Oberarm berühre, schlägt er seine Augen auf. Ich stutze, als ich in sein entspanntes, lächelndes Gesicht sehe. Dann zieht sich Herr T. die kleinen Kopfhörer aus den Ohren und schwärmt mir von Herbert von Karajan und Ann Sophie Mutter vor, mit deren musikalischen Darbietungen er sich gerne seine schlaflosen Krankenhausnächte vertreibe. Und etwas verlegen fügt er an, dass er hoffe, mit seinem Gesang niemanden gestört zu haben. "Nein, ganz und gar nicht", erwidere ich und kann mir ein Lachen nicht verkneifen.
06:00 Uhr
So langsam haben sich die ersten Mitarbeiter des Frühdienstes eingefunden. Mein Dienst hingegen ist beendet.
Als ich durch die Gänge Richtung Ausgang schlendere, lächelt mich so manch vertrautes Gesicht an und wünscht mir eine gute Nacht, während vom Klinikpark das fröhliche Morgenkonzert der Singvögel durch die Fenster dringt.