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  • Anika Wolf
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  • 25.08.2010

Der Erste-Hilfe-Kurs der AG EH-MED in Gießen

Leben retten leicht gemacht. In Gießen bringen Medizinstudenten ihre Kommilitonen ehrenamtlich auf den neuesten Stand der Ersten Hilfe. Die „AG Erste Hilfe und Notfallmedizin für Medizinstudierende“ spielt dabei lebensechte Situationen nach.

 

Wir sind auf dem Weg in den Hörsaal, als plötzlich ein lautes Schreien von draußen zu hören ist. Wir rennen quer durch das Gebäude, schauen, was passiert ist. Vor der Tür liegt ein junger Mann unter seinem Fahrrad eingeklemmt, an seinem Bein ist ein blutiger, abstehender Knochensplitter zu sehen. Er schreit wie am Spieß. Sofort kümmern wir uns um ihn. Aber Moment: Ganz still sitzt noch ein Mädchen in der Ecke und krümmt sich vor Schmerzen. Aber sie fällt den meisten gar nicht auf, der junge Mann lenkt alle Aufmerksamkeit auf sich. Nein, das ist keine Szene aus dem neuesten Kinofilm. Das ist der Erste-Hilfe-Kurs der „AG Erste Hilfe und Notfallmedizin für Medizinstudierende“.

Die Idee der AG EH-MED

Jeder Mediziner muss für die Anmeldung zum Physikum die Teilnahme an einem Erste-Hilfe-Kurs nachweisen. An einigen Unis, so auch in Gießen, gibt es ein ganz besonderes Angebot, um diesen Schein zu ergattern. Das Ausbildungs-Team AG EH-MED besteht ausschließlich aus Medizinstudierenden, die ihre Kommilitonen ehrenamtlich in die Geheimnisse der Ersten Hilfe einweihen.
Das Konzept: Hier soll das Vorwissen der Studenten genutzt werden, um ihnen ein erweitertes notfallmedizinisches Grundwissen nahe zu bringen.

 

Schema F

Nach Einschreibung, Anmeldung und allen anderen Formalitäten geht es dann auch schon mit dem ersten Vortrag los. Uns wird erklärt, wie wir vorgehen müssen, falls wir als Ersthelfer an einen Unfallort kommen. Noch unzählige Male werden wir hören, was dann zu tun ist: Schema F anwenden. Das heißt:
Überblick verschaffen, Eigenschutz, Bewusstsein prüfen, Hilfe rufen, Atemkontrolle, Notruf absetzen.

 

Ohnmachtsanfälle am laufenden Band

Nach der Einführung geht es in kleinen Gruppen weiter. Das Wissen, dass wir im vorangegangenen Vortrag erworben haben, wird nun vertieft. Wir lernen, wie nach der Bewusstseinskontrolle weiter vorzugehen ist: Bei normaler Atmung wird der Verletzte in die stabile Seitenlage gebracht, ist die Atmung nicht normal oder gar nicht vorhanden, wird mit der Herz-Lungen-Wiederbelebung begonnen.

Dann endlich dürfen wir das Gelernte auch selbst anwenden. Plötzlich fallen die Leute reihenweise um, die fleißigen Ersthelfer müssen sie nach durchgeführter Bewusstseinskontrolle in die stabile Seitenlage bringen. Dank der schnellen Hilfe sind bald alle Notfall-Opfer wieder wohlauf und es kann in weiteren Vorträgen mit den theoretischen Grundlagen über die Ursache von Bewusstseinsstörungen weitergehen.

 

Fragen über Fragen

Durch das abwechslungsreiche Programm kommt keine Langeweile auf.
Welche körperlichen Störungen machen einen Patienten zum Notfall? Was kann man dagegen tun? Wie geht man mit einem panischen Patienten um? Was ist, wenn man nachts allein zu einem Unfallort kommt? Fragen über Fragen, deren Antworten wir neugierig aufsaugen.
Aber was ist, wenn man wirklich zu einem Notfall kommt? Wird man dann besonnen genug sein, um sich an all das Gelernte auch wieder zu erinnern?
Dazu haben die Ausbilder immer wieder einen guten Merkspruch parat. Wenn ich zu einem Patienten komme, dessen Bein traumatisch amputiert ist, kümmere ich mich zuerst um ihn oder lieber um das Bein, damit es gut genug erhalten bleibt, um vielleicht wieder angenäht zu werden? Die einprägsame, wenn auch etwas makabere Lösung:
„Man kümmert sich immer zu erst um den Teil, wo der Kopf dran ist“.

 

Was darf man als Ersthelfer überhaupt?

In dem Erste-Hilfe-Kurs kommt auch die rechtliche Seite der Ersten Hilfe nicht zu kurz. Das heißt zum Beispiel: Hat ein Patient mit Herzbeschwerden sein Nitrospray dabei, darf man ihm dieses zwar anreichen, aber nicht verabreichen. Das muss der Patient selbst tun.
Genauso sieht es aus, wenn man eine Spritze mit einem Antiallergikum in der Tasche einer Person findet, die von einer Wespe gestochen wurde. Anreichen ja, spritzen nein. Auch nicht, wenn der Patient bewusstlos ist und sich nicht mehr selbst versorgen kann. Schließlich weiß der Ersthelfer nicht, ob es wirklich sein Medikament ist. Oder ob die Ursache für die Bewusstlosigkeit vielleicht doch eine andere ist als der Wespenstich; möglicherweise würde der Zustand des Patienten mit dem Mittel noch verschlechtert.

 

Ich darf intubieren!

Was im Gegensatz zum „normalen“ Erste-Hilfe-Kurs den Medizinstudenten hier noch geboten wird, ist etwas ganz Besonderes: Wir dürfen intubieren. Natürlich nur eine Puppe, aber das ist doch immerhin etwas.
Mit dem Laryngoskop bewaffnet, strecke ich also den Kopf des „Patienten“ nach hinten und drücke mit dem Spatel die Zunge nach unten. Irgendwo da muss doch die Epiglottis sein – oh Mann, ist das aber eng und dunkel da hinten. Vom Nachbartisch höre ich ein lautes „Knack“. Wäre dort ein echter Patient, wäre dieser jetzt um einen abgebrochenen Zahn reicher.
Ich konzentriere mich wieder auf meine Puppe, schiebe den Tubus in die Dunkelheit hinein. Mit einer Spritze Luft wird er geblockt, dann kann der Ambubeutel angeschlossen werden. Ich drücke ihn zusammen – und sehe, wie sich der Magen aufbläst. Okay. Ich habe wohl doch nicht die Luftröhre getroffen. Kann ja nur besser werden.

 

Jetzt kommt Bewegung ins Spiel

Nach dieser Konzentrationsaufgabe geht es nun zum sportlichen Teil über. An den Puppen soll eine Herz-Lungen-Wiederbelebung unter Realbedingungen durchgeführt werden - also so lange, wie man auch normalerweise bis zu Eintreffen des Notarztes reanimieren müsste – im Schnitt etwa zehn Minuten.

Mit musikalischer Unterstützung, damit auch alle die richtige Frequenz treffen (genau richtig ist hier zum Beispiel „Stayin' alive" von den BeeGees - wer es etwas sarkastischer mag, kann auch „Highway to hell“ von ACDC nehmen) geht es los. Immer abwechselnd zwei Mal beatmen, 30 Mal auf den Brustkorb drücken. Zehn Minuten lang. Leben retten ist verdammt anstrengend.

 

Ein Notfall nach dem anderen

Die Highlights des Kurses sind aber definitiv die „realistischen Unfalldarstellungen“. Dazu wird das Anatomiegebäude zu allen erdenklichen Schauplätzen umfunktioniert. Mit Notfalltasche ausgerüstet, machen wir uns auf den Weg.

Wir befinden uns gerade zufällig im „Altersheim“, als plötzlich eine Tasse scheppernd zu Boden fällt, eine Frau hängt schief in ihrem Stuhl, unfähig, ihre rechte Seite zu bewegen oder zu sprechen. Zwei Ersthelfer legen sie vorsichtig auf den Boden, reden beruhigend auf sie ein. Nicht gerade einfacher wird die ganze Situation durch eine sehr aufgeregte Angehörige der Frau, die immer wieder panisch schreit: „Was ist mit meiner Mutter? Jetzt tun sie doch endlich was!“

Auf dem Weg zum „Bahnhof“ dann plötzlich ein Obdachloser mit einer Spritze in der Hand, der jegliche Hilfe ablehnt und den Helfer mit der Spritze bedroht. Einige Meter weiter ein junger Mann, der sich die Pulsadern aufgeschnitten und eine Menge Blut verloren hat, bei jeder Annäherung aber wild mit dem blutigen Messer fuchtelt.

Zurück in den Hörsaal, wo die junge Dozentin an einem überalterten Overhead-Projektor herumwerkelt, plötzlich aber völlig steif an dem Gerät fest zu kleben scheint. Wir ziehen den Stecker, die Frau ist verwirrt und scheint von dem Stromunfall gar nichts mitbekommen zu haben, murmelt nur immer wieder, dass sie doch ihren Vortrag über den Elektrolythaushalt der Frösche weiterführen müsse...

Nach jeder „Rettung“ besprechen wir gemeinsam in der Gruppe, bei welchen Maßnahmen wir gut waren und was noch verbessert werden könnte.

Und dann das Horrorszenario: ein Unfall auf der „Autobahn“. Ein Auto, der Fahrer leblos, auf dem Rücksitz ein schreiendes Kind mit panischer Mutter. Vor dem Auto ein Motorradfahrer, der seine Beine nicht mehr spürt. Zu allem Überfluss noch ein aufdringlicher Reporter, der ständig versucht, exklusive Unfallfotos zu bekommen. Hier gilt es nun, alles Gelernte anzuwenden, sich einen Überblick zu verschaffen, das Warndreieck nicht zu vergessen und herauszufinden, wer am Dringendsten Hilfe benötigt. Nicht so einfach, dabei selbst die Ruhe zu behalten...

 

Um einen Schein reicher

Die Belohnung für all die Mühen folgt nur kurze Zeit später: Mit dem Erste-Hilfe-Schein in der Tasche komme ich dem Physikum wieder einen kleinen Schritt näher.

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