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- Anne Schneider
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- 09.12.2021
100 Tage Lernen, Kreuzen, Hoffen – alles für Bismarck und Lepra?
Nach einem Winter mit vielen Formularen, Hunderten Lernkarten, Tausenden gekreuzten Fragen und dem ein oder anderen Nervenzusammenbruch ist es geschafft: Anne ist von einer M2-lerin zur PJ-lerin aufgestiegen. Warum der Lockdown in dieser Zeit nicht nur von Vorteil war, ob es möglich ist, neben dem Lernen zu arbeiten, und wie man selbst beim Gang zur Toilette ins Schwitzen kommt, erzählt sie euch hier.
Die Vorbereitung vor der Vorbereitung
Fangen wir am besten ganz vorne an: Was muss man überhaupt beachten, bevor man sich in die berühmtberüchtigten 100 Tage stürzt? Damit sich das Lernen überhaupt lohnt, ist es wichtig, die Anmeldefristen nicht zu verpassen – so banal es auch klingen mag. Mittlerweile meldet man sich, zumindest in Hamburg, komplett online an. In meinem Jahrgang war zusätzlich die Anmeldung in Papierform erforderlich, inklusive aller Originale bzw. amtlich beglaubigter Kopien.
Ein paar Monate vor dem Examenstermin müssen dem jeweiligen Landesprüfungsamt die Geburtsurkunde, das Abiturzeugnis, die Bescheinigungen über die Famulaturen sowie das dreimonatige Pflegepraktikum, der Gesamtschein mit allen bisher erbrachten Studienleistungen und weitere Unterlagen vorliegen. Wenn dein M2 näher rückt, plane dir für den bürokratischen Teil des Examens am besten genügend Zeit ein, damit es auf keinen Fall an den Formalien scheitert.
Was hat es mit den 100 Tagen auf sich?
Die meisten Studierenden nutzen zur Vorbereitung auf das zweite Staatsexamen einen sogenannten „100-Tage-Lernplan“. Dieser enthält Inhalte, die in den Examina der letzten zehn Jahre abgefragt wurden. Fachbereichen und Themen, die häufig geprüft werden, wird dabei mehr Aufmerksamkeit geschenkt, während kleinere Fächer eher kurzgehalten werden. Jeder Tag besteht aus mehreren Lernkarten – beispielsweise sind es mal vier, mal sieben, mal elf Kapitel unterschiedlicher Länge.
Nach dem Durcharbeiten der Kapitel kommt das tägliche „Kreuzen“, das heißt es werden Multiple-Choice-Fragen aus den Examina der letzten zehn Jahre gestellt. So hast du die Möglichkeit, dich an den Fragenstil des IMPPs zu gewöhnen und bekommst bestenfalls ein Gespür dafür, worauf du achten, wie du Antwortmöglichkeiten von vornherein ausschließen kannst, welche Themen besonders relevant sind, und so weiter.
Die perfekte Vorbereitung
… gibt es nicht. Nun ja, das ist wahrscheinlich zu drastisch formuliert, aber wie bei jeder anderen Prüfungsvorbereitung kann die optimale Lernstrategie für jeden eine andere, bei Weitem nicht perfekt sein und am Ende trotzdem für alle funktionieren. Ein Beispiel dafür: Auch wenn überall von 100 Tagen die Rede ist, heißt das nicht, dass du exakt 100 Tage vor dem Examenstermin mit dem Plan anfangen musst oder sollst. Einige meiner Kommilitonen haben den Lernplan strikt verfolgt und letztendlich ein ähnlich gutes Ergebnis erzielt wie diejenigen, die davon abgewichen sind.
In Hamburg wird für das zehnte Semester außer einer Studienarbeit kein Unterricht vorgesehen, damit man Gelegenheit zur Vorbereitung auf das zweite Staatsexamen hat. So kannst du dir einen Puffer einplanen und den Lernplan beispielsweise auf 130 Tage ausdehnen, damit du ein paar freie Tage zur Erholung oder für „unerwartete Ereignisse“ wie Krankheit, Weihnachten oder den Geburtstag deiner Oma einplanen kannst. Außerdem kannst du die zusätzlichen Tage für andere Projekte nutzen, wie deinen Nebenjob oder deine Doktorarbeit – mit genügend Motivation und ein bisschen Organisation ist das neben der Examensvorbereitung auf jeden Fall machbar.
Für mich persönlich war es manchmal auch einfach zu viel Stoff auf einmal, der für einen Tag vorgesehen war, sodass ich die jeweiligen Lernkarten nicht streng an genau diesem Tag durchgearbeitet, sondern ein paar Kapitel mit in einen kürzeren Tag genommen habe. Ab und zu kann es natürlich auch vorkommen, dass du einfach einen schlechten Tag hast, an dem du dir dieselbe Lernkarte dreimal hintereinander durchliest und trotzdem nichts im Kopf behältst. Auch das ist bei den allermeisten normal und nicht so schlimm, wie man in dem Moment befürchtet, solange am Ende die produktiveren Tage überwiegen.
Da meine Lernzeit und mein Examen während der zweiten bzw. dritten Corona-Welle stattfanden, hatte ich oft das Gefühl, dass meine Konzentration beeinträchtigt war durch die sich zeitweise überschlagenden Ereignisse. Daher hatte ich häufig Sorge, nicht genug und nicht ausreichend nachhaltig zu lernen. Dazu kam einer der zahlreichen Lockdowns – klingt im ersten Moment gar nicht nach dem schlechtesten Szenario, weil es nicht viele Ablenkungsmöglichkeiten bietet. Andererseits hätte ich mir aber manchmal genau das gewünscht, um mich nach einem Lerntag auf eine Belohnung zu freuen: ein Treffen mit Freunden, ein Kinobesuch, eine Pause im Fitnessstudio oder in einem Café. Zudem hat sich das Lernen in meinem Semester extrem auf die eigenen vier Wände verlagert, weil die Bibliotheken geschlossen waren. Da ich dort auch in den Jahren zuvor nicht oft gelernt habe, war das für mich nicht allzu schlimm, aber ich kenne einige, die zu Hause keinen ruhigen Arbeitsplatz hatten und sich eine klarere Trennung zwischen Lernen und Freizeit sehr gewünscht hätten.
Dadurch, dass der Laptop mich den ganzen Tag „angelacht“ hat, habe ich mich ständig an den riesigen Berg an Lernstoff erinnert gefühlt, der noch vor mir lag. In Kombination mit den fehlenden Freizeitmöglichkeiten hat das teilweise dazu geführt, dass ich mir weniger Pausen gegönnt, aber während der Lernzeit trotzdem nicht effektiv gelernt habe, und vielen meiner Freunde ging es ähnlich. Es ist also wie sonst auch in der Prüfungsvorbereitung: Gönn‘ dir zwischendurch Pausen, egal wie viel du noch zu tun hast, damit du danach wieder mit mehr Energie durchstarten kannst!
„Ich bin schon an Tag 64, und du?“
… Ich erst an Tag 52, und am Ende habe ich es trotzdem geschafft – zumal die letzten Tage „nur“ aus Kreuzen und damit Wiederholung bestehen. Davon kann man auch zwei oder sogar drei an einem Tag schaffen, sodass man hier einige Lerntage einsparen kann, wenn es sein muss. Sicher kann es hilfreich sein, sich mit den Kommilitonen über den Lernplan auszutauschen und die Fortschritte zu messen. Allerdings kann dieses Vergleichen auch dazu führen, dass du dich stresst, wenn du das Gefühl hast, dass alle viel weiter sind als du, besser kreuzen, und überhaupt alles besser und schneller schaffen als du. Wenn dir solche Vergleiche nicht guttun, dann versuche, dich mehr auf dich zu konzentrieren, und sprich mit deinen Mitstreitern lieber über schöne, „lernferne“ Dinge, um auf andere Gedanken zu kommen. Es wird immer jemanden geben, der weiter ist und intensiver lernt, aber genauso auch jemanden, der noch nicht so fortgeschritten ist wie du. Außerdem heißt ein Tag, an dem du schlecht kreuzt, nicht automatisch, dass du das Examen nicht schaffen kannst.
Das Gleiche gilt für deinen Lernrhythmus: Während dein Kommilitone stolz erzählt, dass er jeden Tag von 8 bis 14 Uhr lernt und danach fertig ist und seinen Nachmittag genießen kann, musst du dich nicht schlecht fühlen, wenn du um 11 Uhr anfängst, nachmittags eine Pause machst und abends noch mal ein Konzentrations-Hoch hast. Für jeden funktioniert etwas anderes, und zwar unterschiedlich lange: Dein Rhythmus darf sich im Laufe der Zeit verändern! Nicht jeder Tag kann und muss exakt gleich verlaufen. Und denk immer daran: Es haben schon so viele vor dir geschafft und die Durchfallquote ist verhältnismäßig niedrig. Das soll natürlich nicht heißen, dass das Examen geschenkt ist und du es auf die leichte Schulter nehmen kannst, aber schlussendlich klappt es doch bei den allermeisten.
Trotz aller (teils unnötiger) Gedanken, die ich mir wegen des Examens selbst gemacht habe, war meine größte Sorge bis zum Tag der Tage nicht nur, durchzufallen, sondern Corona mit all seinen möglichen Auswirkungen. Und damit war ich nicht die Einzige: Mindestens zwei Wochen vor dem ersten Examenstag haben wir uns mehr oder weniger in Selbstisolation begeben. Ich bin zwar noch einkaufen und spazieren gegangen, habe aber meine persönlichen Kontakte noch drastischer reduziert und hatte trotzdem immer wieder Angst, mich anzustecken oder als Kontaktperson in Quarantäne zu müssen – oder, und das war mein großer Albtraum: dass das Examen aufgrund zu hoher Infektionszahlen abgesagt werden könnte, wie es ein Jahr zuvor in Bayern und Baden-Württemberg der Fall war.
Am Ende kommt ohnehin alles anders, als man denkt
Letztendlich ist zum Glück nichts davon eingetreten und wir konnten unser Examen wie geplant schreiben. Natürlich mit Auflagen wie Masken und Mindestabstand, aber immerhin wurde es nicht abgesagt. Aller Gegenmaßnahmen zum Trotz lag ich in der Nacht vor dem ersten Prüfungstag stundenlang wach. Gleichzeitig wusste ich, dass ich dringend schlafen müsste, was noch mehr dazu geführt hat, dass ich kein Auge zugetan habe. Auch das scheint mehr oder weniger normal zu sein, denn ich war bei Weitem nicht die Einzige, der es so ergangen ist. Wenn du also vor Aufregung nicht schlafen kannst, ist das zwar ärgerlich und mindert wahrscheinlich deine Konzentration, aber auch damit kannst du dein Examen bestehen. Vom Inhalt der Fragen wurden wir leider mehrfach negativ überrascht: Von spezieller Humangenetik über Bismarcks Sozialversicherungen bis hin zu Lepra waren einige Schmankerl dabei. Das hat uns allen gezeigt, dass auch die gewissenhafteste Vorbereitung nicht vor Unwissenheit schützt und fast immer irgendetwas dabei ist, was man nicht beantworten kann.
Da das Staatsexamen aus drei Tagen à fünf Stunden besteht, kann ein Gang zur Toilette durchaus notwendig werden. Auf dem Weg dorthin hatte ich plötzlich das Gefühl, Schritte zu hören, und dachte, ich würde vor lauter Nervosität schon halluzinieren, aber nein: Die Aufsicht ist uns tatsächlich bis auf die Toilette gefolgt. Vermutlich ist das normal und richtig, um Täuschungsversuche so gut wie möglich einzudämmen; ein bisschen befremdlich und gewöhnungsbedürftig fand ich es in dem Moment trotzdem. Obwohl ich während des Examens ausschließlich gesessen und über meinem Papier mit den über 100 Fragen und 500 Antwortmöglichkeiten gebrütet habe, habe ich nach jedem Prüfungstag nicht nur mental, sondern auch körperlich geschlaucht gefühlt, aber angesichts des Schlafmangels und der langen Konzentrationsphase war das wohl weder verwunderlich noch war ich damit die Einzige.
Als es schließlich vorbei war, ist mir ein riesiger Stein vom Herzen gefallen, insbesondere als ich dank der Hochrechnungen gesehen habe, dass mein Ergebnis höchstwahrscheinlich zum Bestehen gereicht hat. Nach jedem Prüfungstag kann man nämlich sein Fragenheft mit nach Hause nehmen und online eingeben, was man angekreuzt hat. Daraufhin werden die eigenen Antworten sowohl mit denen der anderen Prüflinge als auch mit „Expertenmeinungen“ verglichen, damit man ungefähr abschätzen kann, wie man abgeschnitten hat. Mich persönlich hat das beruhigt; andere wiederum haben bewusst darauf verzichtet, am ersten oder zweiten Tag ihr Heft mitzunehmen und die Antworten einzugeben, weil es sie vor dem nächsten Tag noch nervöser gemacht hätte. Auch hier gilt: Keine Herangehensweise ist die falsche, sondern jeder muss für sich herausfinden, was ihm guttut.
Ende gut, alles gut?
Die Errechnung der Noten ist meiner Meinung nach relativ kompliziert und schlussendlich auch nicht das Entscheidende, weil für mich am allerwichtigsten war, dass meine Mitstreiter und ich das M2 auf Anhieb bestehen und die Vorbereitung nicht noch einmal durchlaufen müssen. Was mir und meinen Gleichgesinnten jedoch extrem gefehlt hat, war das Danach: das gemeinsame Feiern, eine kleine Urlaubsreise, entspannte Unternehmungen. Wieder sind also „die üblichen Belohnungen“ wegen Corona weggefallen und ich hoffe, dass wir alle bald alles nachholen können, was wir versäumt haben.
Nach dem Examen ist vor dem PJ
Insgesamt bin ich sehr froh, dass der große M2-Brocken noch vor dem Einstieg ins Praktische Jahr weggeschafft werden muss – wobei die Sorge, dass alle PJ-Pläne zunichte gemacht werden, wenn entweder das Examen aus- oder man selbst durchfällt, ein treuer Begleiter ist während der Vorbereitungszeit. In manchen Themengebieten ist man durch das vorherige zweite Staatsexamen theoretisch besser auf die Praxis vorbereitet, aber vor allem hatte ich den Eindruck, dass wir dadurch entspannter und mit etwas mehr Leichtigkeit die (vor-)letzte Etappe unseres Studiums antreten konnten. Und ein bisschen Leichtigkeit kann, besonders aktuell, auf keinen Fall schaden.