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  • Anne Schneider
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  • 23.10.2019

Psychische Belastungen im Medizinstudium

Der praktische Unterricht am Patientenbett kann oftmals sehr belastend für junge Medizinstudierende sein. Was tun, wenn einen die Patientengeschichten nicht mehr loslassen?

 

Mittwochnachmittag, 14 Uhr. Draußen strahlender Sonnenschein, drinnen ein langer Krankenhausflur. Zu sechst stehen wir auf Station und warten darauf, dass unser Unterricht am Krankenbett, kurz UaK, beginnt. Nach mehreren morgendlichen Vorlesungen aus der klinischen Chemie und der Pathologie steht jetzt das Thema „Leukämie“ im Stundenplan, passend zum Unterrichtsmodul, das wir momentan durchlaufen. Relativ gleichgültig stehen wir in unserer Studentengruppe aus dem sechsten Semester, unterhalten uns über das Mensaessen vorhin, darüber, was wir später vorhaben, und überlegen, ob der Unterricht vielleicht früher zu Ende sein wird, damit wir noch etwas von der Frühlingssonne haben. Eine junge Ärztin eilt heran.
„Hallo, ihr seid aus dem Modul C3 und habt jetzt einen UaK hier, oder?“
Wir nicken.
„Ich bin Marie – kommt mal kurz mit, ihr könnt eure Sachen im Arztzimmer ablegen und eure Kittel anziehen.“
Mittlerweile fast routiniert, weil solche Unterrichtseinheiten bereits seit über einem Jahr ein fester Bestandteil unseres Stundenplans sind, schlüpfen wir in unsere Kittel und stecken unsere Stethoskope in die Tasche.
„Ich habe im Vorfeld zwei Patienten gefragt, ob sie beim Studentenunterricht mitmachen. Am besten gehen drei von euch zu der Patientin und die anderen drei zu dem Patienten, den ich ausgesucht habe“, schlägt Marie vor. „Macht eine Anamnese und eine körperliche Untersuchung, wenn die Patienten einverstanden sind.“
Sie sagt uns die Patientennamen und die dazugehörigen Zimmernummern und wir verabreden, dass wir uns in einer Viertelstunde wieder im Arztzimmer treffen.

Weil „unser“ Patient derzeit eine Chemotherapie erhält und sein Immunsystem daher heruntergefahren ist, statten wir uns vor dem Betreten seines Zimmers mit Einmalkitteln, Mundschutz und Handschuhen aus. Bis auf die Tatsache, dass er auf einer Krebsstation liegt und wir hygienische Vorsichtsmaßnahmen einhalten müssen, haben wir noch keine Ahnung von „unserem“ Patienten. Voller Erwartung öffnet mein Kommilitone die Tür. Im Bett vor uns liegt ein junger Mann. Er ist blass, hat keine Haare auf dem Kopf und ist an eine Infusion angeschlossen. Müde sieht er aus und abgekämpft. Dennoch lächelt er tapfer, als wir uns vorstellen, beantwortet geduldig alle Fragen unserer Anamnese und erklärt sich freundlich bereit, von uns untersucht zu werden.
Herr D. ist 21 Jahre alt – nein, eigentlich 21 Jahre jung. Seit sechs Wochen liegt er hier und bekommt eine Chemotherapie gegen den Krebs. Wegen seines schwachen Immunsystems und der damit einhergehenden hohen Infektionsgefahr darf er sein kleines Krankenhauszimmer seit Tagen nicht mehr verlassen. Auf seinem Nachttisch stehen Fotos von seinen Verwandten und Freunden. Die wohnen in Kiel, können also nicht täglich vorbeikommen, um ihn abzulenken, aufzumuntern, mit ihm zu hoffen und zu kämpfen. Er ist allein.
„Na ja, man stellt sich schon etwas anderes vor mit 21, als hier herumzuliegen“, sagt er und lächelt müde. „Eigentlich bin ich gerade mitten in meiner Ausbildung zum Fluglotsen, aber… Nun ja, dann ist mir die Krankheit dazwischengekommen und hat mich quasi aus meinem Alltag gerissen. Ich würde echt gerne wieder richtig leben.“
Die Situation ist zweifelsohne sehr lehrreich: Wir lernen etwas über seine Krankheit, können uns die Symptome sowie die Nebenwirkungen der Therapie gut vorstellen und erfahren, wie wir am besten mit dem Patienten sprechen. Aber es ist auch beklemmend. Dieser Patient ist genauso alt beziehungsweise teilweise jünger als wir. Er hat aus dem Nichts seine Diagnose erhalten. Von einem Tag auf den anderen war nichts mehr beim Alten. Plötzlich musste er seine Ausbildung unterbrechen und vorläufig ins Krankenhaus ziehen, um den Kampf gegen den Krebs anzutreten. Dieser junge Mensch könnte jeder von uns sein.

Nach dem Patientengespräch gehen wir zurück zum Arztzimmer, wo die andere Kleingruppe und Marie schon auf uns warten. Gemeinsam besprechen wir die beiden Fälle und gehen die verschiedenen Leukämieformen durch. Marie erklärt alles geduldig und anschaulich, sodass wir wertvolle Informationen aus dem UaK mitnehmen können. Wir sprechen über diese Menschen und ihre Krankheit, als würden wir über die Sonne reden, die ins Zimmer scheint, oder über unsere Wochenendpläne. Es fühlt sich an, als wäre das Ganze gar nichts Besonderes. So belanglos. So normal. Nach einer guten halben Stunde sind wir „entlassen“: Der Unterricht ist vorbei und wir haben den restlichen Nachmittag zu unserer freien Verfügung – ohne uns weiter mit der Geschichte des 21-jährigen Herrn D. auseinandersetzen zu müssen, der derweil in seinem Zimmer auf die nächste Studentengruppe wartet.

Was lösen solche Erfahrungen aus?


Nach dem UaK bemerke ich jedoch nicht zum ersten Mal, dass der Fall mich nicht richtig loslässt und ich ihn mit nach Hause nehme. Zwar bin ich nicht todtraurig und fühle mich auch nicht verantwortlich für den Patienten oder gar schuldig für sein Leiden, aber trotzdem stimmt mich der „Besuch“ bei diesem fremden, schwer kranken, jungen Menschen nachdenklich. Aber ist das nur bei mir so oder geht es meinen Kommilitonen in solchen Situationen ähnlich?
„Manchmal hängen die UaK’s bei mir irgendwie noch nach, sodass ich an dem Tag zum Beispiel nicht mehr in Party-Laune wäre“, berichtet mir Saskia. „Vor allem habe ich es schon erlebt, dass Ärzte mit schweren Patientenschicksalen zum Teil salopp umgehen.“ Als außenstehende Studentin falle ihr der zwischenmenschliche Kontakt manchmal sehr auf.
„Nach UaK’s belasten mich solche Schicksale eher wenig, weil ich die Patienten da immer nur sehr kurz sehe und danach direkt wieder weg bin“, sagt Jakob. „Bei Famulaturen schon eher, weil ich die Leute mit ihren Geschichten besser kennenlerne, wenn sie länger auf Station liegen. Manchmal würde ich mir wünschen, dass man insgesamt mehr für die Patienten tun kann, weil es bei einigen einfach keinen Ausweg mehr gibt.“

Wir sind uns einig, dass diese Art der „Belastung“ im Laufe des Studiums nicht zunimmt – eher gewöhnt man sich daran.
„Beim Kontakt mit schwer kranken Patienten rechne ich damit, dass ich auf Menschen treffe, die leiden“, sagt Saskia. „Mir hat für den Umgang damit auf jeden Fall die Arbeit in der Pflege geholfen, die ich vor dem Studium ausgeübt habe.“
„Gegenüber dem Tod stumpft man immer mehr ab“, findet Laura, nachdem sie schon mehrmals Unterricht in der Rechtsmedizin hatte.
„Ich weiß nicht, ob mich das vielleicht verändert hat und ich durch meine Famulaturen und UaK’s schon total abgestumpft bin“, entgegnet Jakob, fast erschrocken über sich selbst.
Luise hat Ähnliches bei sich beobachtet: „Manchmal begegnen mir schon Schicksale, über die ich länger nachdenke. Manchmal frage ich mich aber bei extremen Fällen auch: Warum berührt mich das jetzt nicht? Das hat mir schon ein paarmal Angst gemacht. Nicht, dass ich durch diese Gewöhnung später eine kalte Ärztin ohne Empathie für meine Mitmenschen werde.“

Was hilft dabei, schlimme Schicksale zu verarbeiten?


Wenn mir im Unterricht oder bei Famulaturen Patienten begegnen, deren Krankheitsgeschichten mich länger beschäftigen, versuche ich meistens, meine Gedanken dazu mit jemandem zu teilen, den ich gut kenne. Nach dem Motto „geteiltes Leid ist halbes Leid“ suchen auch viele meiner Kommilitonen das Gespräch, wenn ein Patientenfall sie nachdenklich stimmt. „Viele Kommilitonen sind durch Patientenschicksale berührt“, sagt Luise. Zwar herrsche deswegen keine schlechte oder traurige Grundstimmung, aber solche Erlebnisse seien oft Thema. Einige bevorzugen dabei Gesprächspartner mit medizinischem Hintergrund, um das Drumherum nicht so lange erklären zu müssen, andere wollen „nur“ ihre Geschichte loswerden und mit ihren Gedanken nicht alleine bleiben. Eine Möglichkeit für gläubige Studierende ist auch, besonders belastende Fälle im Gebet anzusprechen und auf diese Weise „an Gott abzugeben“. Neben dem Aussprechen ihrer Gedanken hilft vielen aber auch Sport oder allgemein Bewegung an der frischen Luft, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.

Lernt man das auch in der Uni?


„Ich fühle mich damit nicht grundsätzlich alleine, aber ich fühle mich von der Uni allein gelassen“, gibt Jakob zu. „Wenn ein Student im vierten Semester zum UaK auf Station kommt, kann er noch unter 20 sein. Und wenn der auf einmal einem sterbenden Krebspatienten gegenübersteht, interessiert es keinen, wie er sich dabei fühlt.“
Auch Luise fühlt sich mit der emotionalen Belastung nicht alleine, aber „es wäre schön, wenn mehr von der Uni käme“, findet sie. „Im Curriculum lernt man nicht, damit umzugehen – das muss man sich schon selbst beibringen.“
„Unterricht hatten wir dazu bisher nicht. Aber ich denke, es ist auch schwierig, das individuell abzupassen“, sagt Laura. „Manchmal hat der eine gerade keinen Bedarf, während ein anderer in dem Moment vielleicht gerne ein Angebot wahrnehmen würde.“
„Man hört von professioneller Distanz zum Patienten, aber dabei lernt man eher, wie man einfühlsam mit dem Patienten spricht und nicht, wie man selbst mit so was umgeht“, findet Jakob. „Supervision als Pflichtprogramm für alle fände ich nicht so gut, aber als niedrigschwelliges Angebot wäre es super. Vielleicht könnte der Arzt nach so einem UaK anbieten, noch mal über besonders schwere Fälle zu reden. Mit der Fragestellung „mich beschäftigt der eine kranke oder verstorbene Patient“ direkt zu einer psychologischen Beratungsstelle zu gehen, birgt dann eventuell doch eine zu große Hemmschwelle.“
„Eine gute Anmoderation des Arztes bei sehr kranken Patienten wäre gut“, stimmt Saskia zu. Auch sie fände es hilfreich, wenn die Studierenden im Rahmen einer Nachbesprechung schwerer Patientenschicksale im kleinen Kreis freiwillig ihre Gedanken teilen könnten, nachdem ein Fall sie emotional mitgenommen hat.
„An unserer Uni gibt es zum Glück viele Evaluationsplattformen, über die man rückmelden kann, wenn man beispielsweise einen UaK nicht gut fand und sich gewünscht hätte, dass der zuständige Arzt anders reagiert, zum Beispiel indem er mehr Anteilnahme an der emotionalen Belastung für den Patienten oder für uns zeigt. Um etwas zu ändern, müssen wir die Feedback-Möglichkeiten nutzen, die uns zur Verfügung stehen – was viele leider nur selten machen.“

Haben diese Erlebnisse einen Einfluss auf die „Ärzte von morgen“?


„Bevor ich den ersten klinischen Unterrichtsblock in Pädiatrie hatte, gehörte die Kinderheilkunde zu meinen Top Drei der möglichen Facharztweiterbildungen“, erinnert sich Luise. „Die Uniklinik-Fälle haben mich aber abgeschreckt, weshalb ich meine Pläne noch mal hinterfragt habe. Vielleicht ist Pädiatrie doch eine Nummer zu hart für mich.“
Auch Laura gehen vor allem die Schicksale junger Menschen nahe, die an unheilbaren Krankheiten leiden. „Ich erinnere mich an einen UaK, in dem wir ein dreijähriges Kind gesehen haben, das im Koma lag und bei dem klar war, dass es nicht wieder aufwachen würde. Sein Vater war total am Ende.“
Um sich zu schützen, schließen viele Studierende daher bestimmte Fachrichtungen von vornherein aus. „Rechtsmedizin wäre mir zum Beispiel auf Dauer zu dunkel“, sagt Saskia. „Und Onkologie könnte ich mir auch nicht für immer vorstellen. Man ist in manchen Fächern immer mit der eigenen Sterblichkeit oder der seiner Familie konfrontiert.“
Viele Studierende streben daher Fachrichtungen an, in denen man oft mit jungen Patienten arbeitet, deren Krankheiten grundsätzlich heilbar sind. „Dieses Gefühl, zu heilen und zu helfen, ist ganz wichtig, glaube ich. Vielleicht wiegt das ein paar der anderen, schweren Fälle auf. Und vielleicht sind wir deswegen als Studierende manchmal sogar bedrückter als die Ärzte, weil wir eben selten das Gefühl haben, dass wir einem Patienten helfen konnten“, findet Jakob.

Nicht nur für mich steht außer Frage, dass sowohl der Unterricht am Krankenbett als auch die Famulaturen ein großes Privileg für uns Studenten sind. Ich finde es beeindruckend und nehme es nicht für selbstverständlich, wenn Patienten bereitwillig von ihrer Krankengeschichte erzählen und wir sie mit unseren Fragen löchern und mit unseren Stethoskopen abhören dürfen. Aber, und das gilt meines Erachtens nach für jeden, der im Beruf mit schweren Schicksalen konfrontiert ist: „Egal, welche Stressoren es gibt – man muss immer auf sich aufpassen und darauf achten, dass es einem selbst gut geht“, weiß Saskia. „Ein stabiles Umfeld und ein „Leben daneben“ sind immer wichtig.“

 

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