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  • Lennart Möller
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  • 29.11.2024

Summerschool Katastrophenmedizin

Ob bei der Flutkatastrophe im Ahrtal, dem Ukrainekrieg oder dem Erdbeben in der Türkei: Immer wieder kommt es weltweit zu Situationen, in denen viele schwerstverletzte Menschen mit mangelhafter oder nicht (mehr) vorhandener Infrastruktur medizinisch versorgt werden müssen. Das Institut für Rettungs- & Notfallmedizin des UKSH (IRuN) veranstaltete im Juli 2024 erstmals eine Summerschool zum Thema Katastrophenmedizin. Lokalredakteur Lennart war dabei und berichtet über Aspekte der Medizin abseits von Krankenhaus und westlicher Hochschulmedizin.

 

 

Was ist eigentlich Katastrophenmedizin?

Katastrophenmedizin beschreibt eine Form der Medizin unter den Bedingungen einer Katastrophe. Das ist erstmal nicht überraschend. Allerdings kursieren verschiedene Definitionen, was Katastrophenmedizin eigentlich wirklich ist. Das Bundesamt für Bevölkerungs- & Katastrophenschutz (BBK) definiert Katastrophenmedizin als die „Planung und Durchführung medizinischer und organisatorischer Maßnahmen, die notwendig werden, wenn eine Individualversorgung Verletzter oder Erkrankter aufgrund eines Schadensereignisses zeitweise nicht oder nur eingeschränkt möglich ist." Die Katastrophenmedizin erfordert also ein Weggehen von der individualisierten Versorgung hin zur Massenversorgung; man könnte es mit „Do the best for the most“ zusammenfassen.


Katastrophenmedizin ≠ katastrophale Medizin

Die erforderliche Umorientierung darf keinesfalls bedeuten, dass auch die medizinische Versorgung katastrophal wird. Ganz im Gegenteil, es erfordert hervorragende medizinische Fähigkeiten, um die Krankenversorgung auch unter den im Katastrophengebiet stark erschwerten Bedingungen aufrecht zu erhalten oder mitunter sogar komplett neu zu etablieren. Ein wichtiges Mittel dazu ist die Triage. Triage (oder Triagieren) ist spätestens seit der Corona-Pandemie ein weithin bekannter Begriff und bezeichnet die Einteilung von Patientinnen und Patienten und ihren Erkrankungen oder Verletzungen anhand des Krankheits- oder Verletzungsbildes und den daraus resultierenden Überlebenswahrscheinlichkeiten, beispielsweise anhand des sog. mStaRT-Schemas, das auch in der Notfallmedizin Verwendung findet.

mSTaRT steht hierbei für modified Simple Triage and Rapid Treatment und erlaubt eine schnelle Einteilung während der Vorsichtung der Patientinnen und Patienten anhand von Farben: Leicht oder nicht verletzte Patientinnen und Patienten werden als Grün klassifiziert, Schwerverletzte als Gelb oder bei noch schwereren Verletzungen als Rot. Bereits Verstorbene werden als Schwarz eingeteilt. Und dann gibt es noch Blau. Blau kategorisierte Patientinnen und Patienten sind noch am Leben, haben aber bei aktuellem Versorgungsstand keine oder allenfalls sehr geringe Überlebenschancen und werden daher nach Möglichkeit palliativ betreut. Die Katastrophenmedizin ist also keinesfalls eine katastrophale Medizin, sondern lediglich eine Anpassung der medizinischen Versorgung an die Situation einer Katastrophe.


Ablauf der Summerschool

Vor dem Hintergrund der wachsenden Herausforderungen unter anderem im Bereich der Katastrophenmedizin durch den fortschreitenden Klimawandel oder eine zunehmende Zahl oft militärischer Konflikte veranstaltete das IRuN vom 23. bis zum 26. Juli 2024 eine Summerschool, um eine Einführung in die verschiedenen Aspekte der Katastrophenmedizin zu geben.

Tag 1:
Die Eröffnung machte am 23.07. Prof. Dr. Dr. h.c. Bernd Domres, ehemals Professor für Chirurgie am Universitätsklinikum Tübingen, und Pionier der deutschen Katastrophenmedizin. Er verdeutlichte uns die Unterschiede zur „klassischen“ Medizin und welche Herausforderungen auf das beteiligte medizinische Personal im Fall der Katastrophe zukommen. Als Beispiel demonstrierte er einen aus Stöcken und Fahrradspeichen selbst gebauten Fixateur externe, der, seiner Schilderung nach, auch im klinischen Einsatz war.

Es folgten weitere Vorträge über die Rechtsgrundlagen der Katastrophenmedizin sowie die präklinischen Leitlinien. Anschließend berichteten eine Ärztin und ein Arzt aus dem Bundeswehrkrankenhaus in Hamburg über die Aspekte der zivil-militärischen Zusammenarbeit in der Katastrophenmedizin. Zudem wurde über die typischen Verletzungsmuster gesprochen, und anschließend auch über die Sichtung der Patientinnen und Patienten und die bereits angesprochene Triage. Dies wurde später am Tag in einer Sichtungsübung und in der weiteren Summerschool immer wieder aufgegriffen. Ein kurzer Exkurs zu den ethischen Grundlagen und die eben genannte Sichtungsübung, die auch als Vorbereitung auf die große Einsatzübung am Ende des vierten Tages diente, schlossen diesen ersten sehr theoretischen Tag der Summerschool ab.


Tag 2:
Tag 2 begann mit einem kurzen Repetitorium der wesentlichen Inhalte des Vortages. Anschließend folgte eine Vorstellung der Komponenten des deutschen Bevölkerungsschutzes, in diesem Fall durch die sog. medizinische TaskForce des Bundes in Ostholstein. Die medizinische TaskForce (MTF) ist eine „standardisierte, sanitätsdienstliche, arztbesetzte Einheit mit Spezialfähigkeiten zum Einsatz im Spannungs- & Verteidigungsfall (Zivilschutz) sowie in der bundeslandübergreifenden Katastrophenhilfe“, so die Definition des BBK. Die MTFs dienen zur Ergänzung oder Ablösung der Einheiten des Landeskatastrophenschutzes in der Versorgungsstufe 4 (Verteidigungs- & Spannungsfall) für die präklinische Versorgung bei einem MANV (Massenanfall von Verletzten), insbesondere, wenn von großflächiger Zerstörung der Infrastruktur ausgegangen werden muss. Schwerpunkte der Tätigkeit sind der Aufbau und Betrieb von Behandlungs- und Verletztendekontaminationsplätzen sowie der weiträumige Patiententransport. Der Aufbau eines Behandlungsplatzes wurde dann auch noch praktisch nach dem Motto „Macht-Mal“ geübt, indem wir ins kalte Wasser geworfen wurden und einen Behandlungsplatz aufbauen mussten, was nach kurzem anfänglichen Chaos aber doch sehr gut funktionierte.


Es folgten, nach einer kurzen Kaffeepause, noch weitere Vorträge. Das THW berichtete zum Thema technische Hilfeleistung im Katastrophenfall und das Landeskommando Schleswig-Holstein der Bundeswehr zum Thema des O-Plan Deutschland, dessen Ziel eine enge zivil-militärische Zusammenarbeit im Verteidigungsfall ist. Details zum O-Plan können unter diesem Link  nachgelesen werden. Besonderes Highlight am zweiten Tag war Prof. Mojib Latif, Seniorprofessor am Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung und der CAU Kiel. Er sprach in seinem Vortrag über die Herausforderungen, die der Klimawandel für die Medizin bereithält, über Hitzewellen, die Ausbreitung tropischer Krankheiten nach Norden und andere Ereignisse, die die medizinische Infrastruktur beschädigen oder gar zerstören können bzw. durch Neuauftreten die Medizin vor bisher nicht da gewesene Herausforderungen stellen werden.Die neuen Informationen wurden in einer abschließenden interaktiven Fishbowl sowie dem abendlichen Grillen am Strand in Falckenstein verarbeitet und weitere Gespräche mit den Expertinnen und Experten geführt.


Tag 3:
Der dritte Tag begann mit einem Besuch bei der Einsatzflottille 1 der Marine. Während einer Führung über einen ehemaligen Versorger der Bundeswehr erhielten wir Informationen über die besonderen Herausforderungen der maritimen Medizin sowie Versorgung und Transport von Verletzten an Bord. Während einiger kleinerer Übungen, bspw. dem Transport einer Schauspielpatientin aus dem Unterdeck nach oben zur medizinischen Versorgung, konnten wir sprichwörtlich am eigenen Leib erleben, was medizinische Versorgung auf einem Schiff bedeutet und welche besonderen Herausforderungen die Mediziner*innen in solchen Situationen erwarten.

Anschließend erhielten wir von Dr. Dr. Thomas Wilp vom Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) in mehreren Kurzvorträgen Informationen zur humanitären Hilfe sowie den beteiligten Akteuren und Strukturen. In einem kurzen Praxisbeispiel konnten wir dieses Wissen anschließend festigen. Am Nachmittag folgten weitere Vorträge über die Emergency Medical Team (EMT) Initiative der WHO zusammen mit Berichten über den aktuellen Einsatz der EMTs in Gaza. Auch SPHERE als Charta für humanitäre Grundsätze und Mindeststandards wurde uns als Aspekt der humanitären Hilfe näher gebracht. Abgeschlossen wurde der Tag mit einem Vorgriff auf den nächsten Tag durch einen Vortrag zur Tropenmedizin durch das Schifffahrtsmedizinische Institut der Marine und einem humanitären Planspiel zur Versorgung einer großen Zahl von Menschen in Not.


Tag 4:
Tag 4 (und damit der letzte Tag) schloss nahezu nahtlos an Tag 3 an, nämlich mit der Thematik von Ausbrüchen tropische Erreger. Immer wieder ist davon zu lesen, dass Ebola, das West-Nil-Virus oder, ganz aktuell, auch MPOX-Fälle in tropischen Ländern aufgetreten sind, was sogar zur Ausrufung der Notlage durch die WHO führte. Dies war auch der angekündigte Themenschwerpunkt an Tag 4. Nach einer kurzen Rekapitulation des Themas „Komplexe Ausbruchslagen“ und des sog. Kleeblattsystems am Beispiel der Coronapandemie durch Prof. Gräsner vom IRuN ging es um die Vorbereitung auf bioterroristische Lagen, bspw. durch Anthrax, und die Krankenhausalarm- & -einsatzplanung. Zudem wurde auch über die Transporte von Patientinnen und Patienten mit Erkrankungen durch hochpathogene Erreger und die damit verbundenen besonderen Herausforderungen gesprochen.

Tag 4 schloss mit dem Highlight der Summerschool ab: Die große Einsatzübung bei ThyssenKrupp Marine Systems. In Zusammenarbeit mit der Werkfeuerwehr und dem örtlichen DRK wurden zwei verschiedene, den Einsatzkräften und uns vorher unbekannte, Szenarien geübt, unter anderem eine Explosion in einer Fertigungshalle mit mehreren Schwerstverletzten. Nach Einteilung der Teilnehmenden in zwei Gruppen begann die Übung zunächst mit unklarer Einsatzlage und unbekannter Anzahl an Verletzten, anschließend mit der Sichtung und der simulierten Versorgung und Abtransport der Patientinnen und Patienten. Bei einer anschließenden Manöver-Kritik wurden die Schwachstellen und Fehler aufgedeckt und das optimierte Vorgehen besprochen. Im Anschluss wurden die Rollen getauscht und ein anderes, wenn auch ähnliches Szenario geübt sowie dieses erneut in der anschließenden Manöver-Kritik besprochen. Bei beiden Gruppen, sowohl als „Verletzter“ als auch als „Retter“, war es interessant, zu beobachten, wie schnell sich eine Dynamik einstellte. Sowohl bei den Verletzten, die schnell als eine Gruppe mit einer gemeinsamen Geschichte auftraten, als auch bei den Rettenden, da es aufgrund der künstlichen Verrauchung und der guten Schauspielkünste dazu kam, dass man mitunter ganz vergaß, dass wir in einer Übung waren.


Abschlussfazit

Was hat mir persönlich die Summerschool gebracht? Ich habe weniger „klassisches“ medizinisches Wissen (im Sinne von Lehrbuchwissen) mitgenommen, dafür aber die Art und Weise erlernt, wie ich in Situationen denken und handeln sollte, die nicht dem normalen Alltag entsprechen, sondern ein Umdenken erfordern. Sei es bei einer akuten Katastrophe wie der Flut im Ahrtal, einem militärischen Konflikt wie in der Ukraine oder auch in der humanitären Hilfe wie aktuell in Gaza und den angrenzenden Regionen. Ich kann jeder und jedem, ungeachtet von den persönlichen Interessensschwerpunkten im medizinischen Bereich nur nahelegen, sich in irgendeiner Form mit dem Thema Katastrophenmedizin zu beschäftigen.



Interview mit Prof. Dr. Jan-Thorsten Gräsner, Direktor des Instituts für Rettungs- & Notfallmedizin (IRuN) des UKSH

Was sind für Sie die wichtigsten Aspekte der Katastrophenmedizin und wie sollte medizinisches Personal mit diesen besonderen Herausforderungen umgehen?

Die Katastrophenmedizin ist eine – für viele – unbekannte Herausforderung und zusätzlich fehlen bekannte und beübte Handlungsmuster. Bezogen auf Deutschland kommt noch hinzu, dass „echte“ Katastrophen sehr selten sind und damit gerade auch beim medizinischen Fachpersonal andere Prioritäten bei der Auswahl der Themen, auf die man sich vorbereitet, vorhanden sind. Die größte Herausforderung ist sicherlich der Wechsel von der intensiven Individualmedizin unter Verwendung meist mehr oder weniger endloser Ressourcen auf eine Mangelsituation an Material und Personal bei gleichzeitig zahlreichen Betroffenen. 


> Welche besonderen Fähigkeiten sollte man mitbringen, wenn man in die Katastrophenmedizin möchte?

Wichtig ist die Fähigkeit, von der Individualversorgung auf die „Mangelversorgung“ umzustellen. Hinzu kommt, auch selbst mit den Einflüssen der Katastrophe umgehen zu können, da ggf. auch eigene Angehörige, Freunde oder man selbst von der Situation im täglichen Leben beeinträchtigt ist. Grundlage für die medizinischen Entscheidungen ist eine breite Aus-, Fort- und Weiterbildung.
 

> Wie wichtig ist es, dass das Thema Katastrophenmedizin bereits im Medizinstudium gelehrt wird? 

Die Situation um uns herum hat in den vergangenen Jahren gezeigt, dass auch wir betroffen sein können. Neben Pandemie und Hochwasser treffen uns auch die Auswirkungen des Ukraine Krieges. Da wir gerade in länger andauernden Katastrophenlagen auf alle Personen mit medizinischem Wissen zurückgreifen müssen, wird dies auch Medizinstudierende betreffen. Darüber hinaus ist das Studium eine gute Gelegenheit, sich innerhalb der curricularen und auch außer-curricularen Lehre mit der Katastrophenmedizin auseinanderzusetzen. Wir starten im kommenden Sommersemester mit einer Ringvorlesung Katastrophenmedizin und führen auch unsere dann zweite Summerschool durch.


> Welche Learnings haben Sie als erfahrender Notarzt für Sich selbst mitgenommen?

Gerade die Umstellung auf viele Patientinnen und Patienten auf der einen und wenig Personal und Material auf der anderen Seite ist die Herausforderung, der wir uns auch als Notärztinnen und Notärzte stellen müssen. Hierbei ist nicht der MANV gemeint, der kurzfristig, vielleicht für 30-60 min zu einer Mangelsituation führt, sondern länger andauernde und großflächige Katastrophen mit zerstörter Infrastruktur. Gezeigt hat sich in unserer Summerschool, dass die Begeisterung für die Katastrophenmedizin ein interprofessionelles und interdisziplinäres Thema ist und wir alle gemeinsam voneinander gelernt haben. In Krisen heißt es, Köpfe kennen.
 

Das Interview führte Lennart Möller.

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