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  • Text und Fotos: Guido Hermanns
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  • 13.01.2009

Medienrummel in Marburg

Seit Beginn des Wintersemesters 2008/ 2009 genießen die Marburger Medizinstudenten eine innovative Form der Lehre: die "Dr. House-Vorlesungen". Initiator dieser ungewöhnlichen Unterrichtsform, einer Mischung aus Film und Vorlesung, ist Prof. Dr. Jürgen Schäfer. Nun haben auch die Medien Interesse an den neuen Vorlesungen gefunden.

Samstag, 8. November 2008, 09:04 Uhr. Film ab: Die erste Szene zeigt ein deutlich adipöses Mädchen im Alter von 10 Jahren beim Seilhüpfen im Sportunterricht. Sie ist sichtlich erschöpft und gibt zunehmend Schmerzen an, unter anderem in ihrem Arm. Doch der Sportlehrer treibt sie dazu an weiter durchzuhalten - bis die 10-jährige mit einem Herzstillstand zusammen bricht.

 

Steter Warnhinweis während der Vorlesung: „Die durchgeknallte Persönlichkeit eines Dr. House entspricht in keinster Weise dem Arztbild und dem Leitbild der Philipps-Universität Marburg“

 

Prof. Dr. Jürgen Schäfer ist Internist, Kardiologe, Intensivmediziner, Endokrinologe und Diabetologe und arbeitet als Professor der "Dr. Pohl Stiftung" in der Kardiologie am Marburger Universitätsklinikum.

Im Folgenden erarbeitet er zusammen mit den Studenten - immer unterbrochen durch Abschnitte der aktuellen Serie - das vorliegende Krankheitsbild. Dabei wird nicht nur die Vorgehensweise des interdisziplinären Teams von Gregory House kritisch hinterfragt. Darüber hinaus werden wichtige Inhalte des Themenkomplexes vermittelt - im vorliegenden Fall eines Herzstillstandes beispielsweise die aktuellen Reanimations-Richtlinien des European Resuscitation Council.

Zum Ende der Vorlesung steht die Diagnose fest: das Mädchen litt am Cushing-Syndrom.

 

Wie alles angefangen hat

Bereits 2007 hatte Prof. Schäfer die Idee zum Konzept der Dr. House-Vorlesungen und diesbezüglich auch den Sender RTL mit der Bitte um Nutzungsfreigabe kontaktiert. "Ich schaue wie viele Studenten selbst gerne Dr. House. Die Krankheitsbilder sind hervorragend recherchiert und tatsächlich von klinischer Bedeutung. Manchmal muss ich selbst noch einmal ein Buch aufschlagen oder in aktuellen Studien nach den teils ungewöhnlichen Symptomen forschen", so der Kardiologe.

 

„Dr. House revisited“: die Vorlesung war so gut besucht, dass viele Teilnehmer stehen mussten.

 

Zunächst war die Vorlesungsreihe eigentlich als "Dr. House previsited" geplant - also dienstagabends vor der offiziellen Ausstrahlung in RTL. Aus rechtlichen Gründen war dies leider nicht möglich, sodass auf alte Sendungen zurückgegriffen werden musste. Dies hat nunmehr den Vorteil, dass die Auswahl der Themen didaktisch abgestimmt ablaufen kann (wie z.B. M. Cushing und im Folgeseminar M. Addison) und qualitativ weniger gelungene Sendungen außen vor bleiben können. Von Nachteil mag sein, dass viele der "hard core House-Fans" die Folgen jedoch bereits kennen. Letzteres stört aber niemanden: "Ganz ehrlich - so ganz verstanden haben wir einzelne Folge noch nie. Wir diskutieren mittwochs in der Uni immer darüber, wie man gewisse Dinge vielleicht hätte anders machen können, aber sicher sind wir uns da nicht. In der Vorlesung können wir alle Fälle noch einmal aufarbeiten", erklärt mir einer meiner Kommilitonen.

Zudem dreht es sich bei dem Dr. House-Seminar nicht darum, ob die "Kollegen" im Fernsehen alles richtig gemacht haben. Prof. Schäfer nutzt diese Serie vielmehr als "Türöffner", um den Studenten die Komplexität einer schwierigen Diagnosefindung näher zu bringen. Dies wird bei "Dr. House" in der Tat durch ständige Teambesprechungen, stetes Hinterfragen der einmal gestellten Arbeitsdiagnosen und dem Zusammenpuzzeln neuer Befunde unterhaltsam vermittelt. Genau so kann universitäre Medizin sein: "spannend wie ein Krimi".

Die Seminar-Reihe "Dr. House revisited - oder: hätten wir den Patienten in Marburg auch geheilt" wird mittlerweile auch von anderen Internisten am Uniklinikum Marburg aktiv unterstützt, wie von Prof. A. Neubauer (Onkologe), von PD Dr. U. Kuhlmann (Nephrologe) und von Dr. A. Jerrentrup (Pulmologe). Sie alle sind von der Idee begeistert und arbeiten fachspezifische Themen aus ihren jeweiligen Schwerpunkten auf. Dieser Aspekt der "gelebten Interdisziplinarität" freut Prof. Schäfer bei seinem Seminar ganz besonders. Denn trotz des relativ großen technischen Aufwandes bei der Vorbereitung und dem ungewöhnlichen Lehransatz dieser Seminarreihe hat noch kein einziger seiner Marburger Kollegen ihm die Unterstützung versagt - und das trotz des unglücklichen Termins an einem Samstagmorgen.

 

Die Medien sind begeistert

Bei der ersten Vorlesung im überfüllten Seminarraum des Marburger Universitätsklinikums waren auch zahlreiche Medien-Vertreter zugegen. Neben der Lokalpresse reihten sich so beispielsweise die Bild-Zeitung und RTL Hessen mit ein. Im Anschluss an die Vorlesung bekamen viele Studenten Gelegenheit, ein Interview geben zu können, welches einige Tage später dann im Fernsehen zu sehen war.

Prof. Schäfer erhielt noch Wochen später Anrufe von Zeitungen und anderen Medien, die ein Interview zum Themenkomplex "Sind Arztserien wirklich realistisch?" haben wollten. So kam ich als Lokalredakteur für die Via medici online unter anderem zu der Gelegenheit, gemeinsam mit einer Kommilitonin für ein Interview des Senders "Hitradio FFH" zur Verfügung zu stehen.

 

RTL Hessen aktuell strahlte eine Aufzeichnung der Vorlesung kurze Zeit später aus.

Interessant ist vor allem, wie es überhaupt zu solch einem Medienrummel kam: Focus online recherchierte im Oktober 2008 über die Realitätsnähe der Dr. House-Folgen. Auf Anfrage bei RTL gaben diese an, dass mittlerweile sogar Medizinstudenten mit den Folgen des Serienarztes ausgebildet würden. Somit war der Kontakt zu Prof. Schäfer hergestellt, der im Vorfeld bei RTL wegen seiner Idee des "Dr. House previsisted" vorgesprochen hatte. Nachdem der Artikel in Focus online erschienen war, klingelten die Telefone im Universitätsklinikum ununterbrochen. Auch RTL registrierte das gesteigerte Medieninteresse und nutzte die Gelegenheit, die erste Vorlesung zu filmen und an einem Dienstagabend kurz vor der nächsten Dr. House-Serie auszustrahlen.

 

Konsequenzen für eine moderne Lehre

Auch Prof. Schäfer selbst hat bei der Durchführung der Vorlesungen eine Menge gelernt. Zur Tatsache, dass sogar Studenten aus Mainz und Greifswald zu den neuen Vorlesungen gekommen sind, meinte er: "Es ist schon erstaunlich, welche Kreise dieses kleine Projekt zieht. Wir müssen uns ernsthaft Gedanken darüber machen, wie wir unsere curriculäre Lehre verbessern können. Wenn wir an einem Samstag Morgen zu fast schon studentenfeindlichen Zeiten in eine völlig freiwillige Vorlesung mehr Studenten hinbekommen als in unsere regulären Vorlesungen, dann stimmt da was nicht."

 

Links

Focus online berichtete als erstes Medium: Medizin als Krimi

Kölner Stadtanzeiger: Lernen mit Dr. House

Der Tagesspiegel: Erstaunlich gute Diagnosen

Frauenzimmer: Von Zysten und Zynikern - Der deutsche Dr. House?

Exkurs: Gefangen im Rad der Medien

Eine interessante Beobachtung, die ich gemacht habe war, dass unzählige Internet-Informationsportale Teile des gut recherchierten Focus-Artikels kopierten und es in die eigenen Artikel einbanden. Tippte man zeitweise zum Beispiel "Marburg+Dr.House" oder "Arztserie+Realistisch" in einer Suchmaschine ein, so fanden sich zahlreiche Bezüge zu den neu eingeführten Dr. House-Vorlesungen. So wunderte es auch nicht, dass meine Freundin mich eines Morgens aus Wien anrief: "In unserer Zeitung steht, dass Dr. House bei euch unterrichtet!"

 

Prof. Dr. Jürgen Schäfer im Interview mit Hitradio FFH.

Das zunehmende Kopieren unter Journalisten belegt auch eine neue Studie, die im Juni erschienen ist. Wie in unserem Fall werden in der Regel Artikel aus den ersten zehn Einträgen der Suchmaschine google als Quellen verwendet. Als Gründe nennen die Journalisten vor allem personelle Engpässe und Zeitmangel. Darunter leidet jedoch erheblich die journalistische Qualität: bei der Verwendung von Sekundärdaten, die Kollegen erhoben haben, ist eine Quelle oft nicht mehr nachweisbar.

Studie: Journalisten schreiben zu oft voneinander ab

Noch zwei Beispiele: Der Tagesspiegel hat erst vor wenigen Tagen eine Anfrage an Prof. Schäfer zu anderen Arztserien und deren Wahrheitsgehalt gestellt. Es wurden auch Studenten, unter anderem ich interviewt. Hier zeigt sich, dass immer wieder die zu Wort kommen, die bereits etwas zum Thema gesagt haben und dann recht schnell als "Experten" in diesem Bereich gelten. Wie man aus den zahllosen Diskussionsforen im Internet unschwer erkennen kann, gibt es aber viele weitere Ärzte und angehende Mediziner, die ebenfalls gerne Arztserien schauen und sich zu diesem Thema ebenso hätten äußern können, aber halt nicht gefragt werden.

Zweites Beispiel: Auch WDR5 hat kurzfristig bei Prof. Schäfer um ein Interview zum Thema "Arztserien" gebeten, welches in der zweiten Januarwoche stattfinden wird. Erneut werde ich aus studentischer Sicht meinen Beitrag leisten. Dies dürfte das Ergebnis der Studie mehr als belegen!

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