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  • Melanie Poloczek
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  • 03.07.2019

Alles Einbildung - Wenn aus Medizinern Hypochonder werden

Medizinstudieren bedeutet, sich mit zahlreichen Krankheiten auseinandersetzen zu müssen. Das macht hellhörig, und führt zur Eigenanamnese. Ein Zwick’ im Körper, ein Blick ins Buch - abwegige Diagnosen sind schnell gestellt, es kommen Zweifel auf: Bin ich vielleicht selbst Patient?

Medical Student’s Disease - so betiteln Forscher das Laster vieler Medizinstudierenden, Krankheiten aus dem Lehrbuch direkt auf sich selbst zu übertragen. Eine Form der Hypochondrie also, bei der die innere Stimme geschult ist, kleinste Symptome wahrzunehmen und fragliche Diagnosen in Eigenregie zu stellen – ohne, dass ein Krankheitswert besteht.

Da gäbe es zum Beispiel die Glioblastomvorlesung von gestern, die bei den Kopfschmerzen von heute an einen Hirntumor von morgen denken lässt (besonders anfällig ist der Hypochonder für die Krankheiten, die aktuell den Lernplan füllen). Oder die schweren Beine am Abend als Symptom einer möglichen Thrombose, „Risikofaktor Pille“ dabei stets im Hinterkopf. Auch Phantomjucken und Desinfektionszwang nach dem Mikrobiologiekurs sind Zeichen einer Einbildung, und schnell schrillen die Alarmglocken, wenn es nach dem Sport im Thorax zwickt. Vielerlei Symptome, oft unspezifisch, machen hellhörig. Das reicht von harmlosen Infekten bis hin zu seltenen Erkrankungen. Wie war das noch gleich mit dieser angeborenen Herzkrankheit, die gar nicht auffällt, bis sie bei jungen Menschen zum Herztod führt?

Hypochondrie ist ein zweischneidiges Schwert.
Einerseits ist da die Einbildung von Krankheiten durch überspitzte Selbstwahrnehmung: Ist ein Symptom erstmal empfunden, wird es tagelang beobachtet, verschlimmert sich scheinbar oder verschwindet zumindest nie so ganz, sodass oft nur ein Arztbesuch Erleichterung verschaffen kann. Jedoch: Die Praxis mit „Diagnose Kerngesund“ zu verlassen, ohne Rezept am Tresen vorbeizuhuschen, sich der eigenen Fantasie geschlagen zu geben, ist unangenehm – und führt zu einem viel erheblicheren Problem.
Denn andererseits spielen Mediziner echte, eigene Beschwerden oft herunter. Reale Leiden werden zwar wahrgenommen, aber als harmlos abgetan, ein Arzttermin wird auf die lange Bank geschoben – man möchte schließlich nicht als Simulant dastehen, war doch schon der letzte Besuch ohne Ergebnis. Schnell wird die Sorge um das eigene Wohl zweitrangig. „Dissimulation“ nennt man das Verschleiern vorhandener Symptome, und so mag der Hypochonder krank zur Uni gehen und anderentags gesund im Wartezimmer sitzen – ein Paradoxon.

Dabei besteht ein Unterschied zwischen Simulation und Hypochondrie. Der eine täuscht vor, letzterer bildet sich ein: Er glaubt, zu leiden - sucht Hilfe - wird abgestempelt als Simulant - leidet andermal tatsächlich - sucht keine Hilfe - ein Teufelskreis. Schmal ist der Grad zwischen Einbildung und echtem Leid.

Dass die Beschäftigung mit Krankheiten zum sich Hineinsteigern in diese führt, wird auch an Patienten deutlich: „Doktor Google“ ist der Arzt von heute, allererste Anlaufstelle, die richtige Ärzte zur Verzweiflung bringt. Schnell wird die Praxis zum Friseursalon, die Vorschlagsdiagnose des Patienten zum Foto von der Wunschfrisur - „Meine Recherche hat ergeben…“, „Könnte ich das haben?“, „So muss es sein“ - und der Mediziner verdreht geübt die Augen. Den Arzt aufsuchen, ohne vorher das Internet zu fragen? Heute unvorstellbar.
Umso widersprüchlicher daher die Parallele zur Hypochondrie: Der Mediziner rät ab, Suchmaschinen auszulöchern und Laienforen zu durchforsten, bricht diese Regeln aber selbst gekonnt: Auch er ist Patient bei „Doktor Google“, stolpert über Krankheit X, stellt in Gedanken Diagnose Y. Er mag Lehrbücher hinzuziehen, in der Gedächtniskiste kramen, sich durch seinen Status zur Selbstdiagnose befähigt fühlen – aber auch er ist fehlbar, kann sich hineinsteigern in Einzelheiten und Details, sogar Symptome erkennen und überinterpretieren, von deren Existenz der Allgemeinpatient nichts weiß – „Einbildung ist auch eine Bildung“, könnte man sagen, und bekommt in diesem Zusammenhang eine ganz andere Bedeutung.

Doch so beängstigend die „Medical Student’s Disease“ auch sein mag, in den meisten Fällen ist sie harmlos, sogar belustigend. In der Vorlesung sitzen und mit den Kommilitonen scherzen, wenn wieder einmal Allerweltssymptome und Risikofaktoren durch den Raum geworfen werden, Müdigkeit und Bewegungsmangel etwa, die allen Anwesenden bekannt vorkommen – ein häufiges Szenario, das keine wahren Ängste schürt. Die ein oder andere Studentenparty verursacht eben keine Leberzirrhose, und vielleicht ist nicht die Schilddrüse am eigenen Kälteempfinden schuld, sondern die falsche Wahl vorm Kleiderschrank.

Gewiss hat die übertriebene Einbildung angehender Ärzte hinsichtlich möglicher Erkrankungen auch einen Nutzen, all der Dramatisierung zum Trotz. Symptome nachvollziehen, sich in die Lage eines - tatsächlich - Erkrankten hineinversetzen, dessen Ängste vorstellen oder eben Ausschluss einer Diagnose nachempfinden, sich ausmalen, wie Leben mit Krankheit sein muss - sicherlich auch ein Weg, Empathie auszubilden. Und die Probleme anderer ernst zu nehmen. Kennzeichnet nicht das den guten Arzt?

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