• Artikel
  • |
  • Julia Hadala
  • |
  • 01.08.2022

Richtungswechsel - wo will ich hin?

Eigentlich war die Fachrichtung klar: Julia wollte wie in Greys Anatomie als Chirurgin im OP stehen und Menschenleben retten. Ein paar Semester Medizinstudium später fragt sie sich, ob ihr Traum von der Chirurgie immer noch realistisch ist.

 

Vor einer Woche habe ich das 8. Semester meines Medizinstudiums beendet. Eine Woche schon, seitdem ich die letzte Prüfung vor dem Sommer geschrieben habe – und genau zwei Tage, seitdem ich endlich die Gewissheit habe, alles bestanden und das 8. Semester damit erfolgreich abgeschlossen zu haben. Endlich Sommerferien!

In den letzten Wochen musste ich vermehrt an die Sommerferien in den letzten Jahren denken.
Vor allem daran, dass ich mir eigentlich seit Jahren keinen Sommer wirklich frei genommen habe. In den Sommerferien der Oberstufe weitergelernt, um mit einem kleinen Vorsprung die Chance zu erhöhen, bessere Punkte für die Endnote zu erzielen. Nach dem Abitur für den Ham-Nat gelernt, um einen Monat später festzustellen, dass es für Berlin doch nicht gereicht hat. Wie der Zufall es aber will, zum Glück die Zulassung in Rostock erhalten und in dem Sommer nach dem 1. Studienjahr monatelange Pflegepraktika absolviert. Nach dem 4. Semester noch einmal im Sommer die komplette Physiologie wiederholt, um nicht ein zweites Mal durchzufallen – und im darauffolgenden Sommer für den 2.Physikumsversuch gelernt.
Seitdem eigentlich in jedem vergangenen Sommer entweder für die Doktorarbeit gearbeitet, notwendige Famulaturen abgeleistet oder für Prüfungen und Praktika nach dem Sommer gelernt.

Auch wenn ich erst 22 Jahre alt bin und mich noch viele Sommer erwarten, bin ich überglücklich damit, endlich wieder ein Buch zu lesen, das nicht die Medizin thematisiert. Überglücklich, diesen Sommer weder mit der Auswertung der Doktorarbeit noch mit Famulaturen zu verbringen und die nächsten Wochen nach meinem Belieben zu gestalten: In den Urlaub zu fahren, Tage am Strand zu verbringen, die Stadt entdecken, in der ich seit fünf Jahren lebe und mich an den kleinen Dingen des Lebens erfreuen, wie einfach ausschlafen.

Es mag seltsam sein, gerade jetzt nach fünf Uni-Jahren diese Gedanken zu hegen, aber vielleicht wird mir auch mit jedem Semester mehr bewusst, dass wir nicht alle als Chirurgen, wie in Greys Anatomy, arbeiten oder uns alle für eine steile Klinik-Karriere, anstatt für eine entspannte Work-Life Balance und einer kleinen Praxis entscheiden werden. Vielleicht wurde mir das aber auch aufgrund der zahlreichen Klinik-Einblicke bewusst, in denen sich Assistenzärztinnen und Assistenzärzte müde und ausgelaugt zur Arbeit schleppen, nur um ein paar Wochen später die Kündigung einzureichen. Assistenzärztinnen und Assistenzärzte, die plötzlich die Erkenntnis gewinnen, dass wir alle nach Abschluss unseres Medizinstudiums zwar approbierte Ärztinnen und Ärzte, aber schlussendlich trotzdem Ärztinnen und Ärzte mit keinerlei Erfahrung sind und wir alle ausnahmslos ins kalte Wasser geworfen werden.

Vielleicht wurde mir das aber auch aufgrund eines Gespräches mit einem Allgemeinmediziner bewusst, der mir nahegelegt hat, mir meiner Prioritäten bewusst zu sein: Dass es völlig in Ordnung ist, den Wunsch nach einer Karriere zu hegen, zu forschen und sich erst einmal in der Klinik zu sehen – aber dass es genauso in Ordnung ist, bodenständig zu bleiben, auf eine gesunde Work-Life-Balance zu achten und die Priorität auf ein entspanntes Leben zu setzen. Er erzählte mir, dass er mit 60 Jahren sagen kann, dass er nie vorhatte, Allgemeinmediziner zu werden - und dass er auch verstehen kann, wieso ich mich derzeit so sehr in der Orthopädie sehe, aber es nur Vorteile bringt, über den Tellerrand zu blicken und offen für Neues zu sein.

Zu Beginn meines Studiums war ich mir absolut sicher, in welche Richtung es mich verschlagen würde. Bereits im Betriebspraktikum der 9. Klasse war ich verliebt in den OP und die Chirurgie. Ein paar Pflegepraktika weiter, war dieser Gedanke bereits verflogen. Nach dem Physikum und der ersten Famulatur wieder im OP stehend, verbrachte ich die meiste Zeit beim Anästhesisten, weil ich die Anästhesie für interessanter hielt, als am OP-Tisch zu stehen.
Zwei Jahre später, erneut in einer Famulatur, durfte ich in einer autologen Knochenmarks-Stammzelltransplantation zur Neovaskularisation bei pAVK die berühmten zwei Worte „Skalpell bitte“ sagen.
Und auch wenn ich vielleicht nachträglich in den Famulaturen nicht viel Wissen gewonnen habe, habe ich vielleicht die Erkenntnis gewonnen, doch irgendwann mit (Vor-)Freude im OP stehen zu wollen.


Egal wie oft man sich in diesem Studium von medizinischen Fächern verabschiedet, glaubt das Richtige gefunden zu haben oder im PJ merkt, dass man nicht weiß, wo man hingehört –  das alles gehört zum Medizin studieren dazu: Ziele aufgeben, Ziele neu erfinden – auf halbem Wege aufhören, umkehren, neue Fußspuren hinterlassen und sich fragen, wohin der Weg wohl führt. Weil das Leben und das Studium keine gerade Linie, sondern ein Auf und Ab voller Gefühle, Sorgen, Siege und Verluste ist – und wir jeden unserer Fehltritte, Umentscheidungen oder Zweifel als das betrachten sollten, was sie sind: Prozesse, die uns schlussendlich dort hinbringen, wo wir hingehören.

Schlagworte
Mein Studienort

Medizinstudenten berichten aus ihren Unistädten

Werde Lokalredakteur Die Unistädte auf Google Maps
Medizin im Ausland

Erfahrungsberichte und Tipps aus über 100 Ländern

Erfahrungsbericht schreiben Auslands-Infopakete
Cookie-Einstellungen