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- Tea Stein
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- 02.10.2019
Gesundheitswesen auf Vietnamesisch
Du möchtest einen Arbeitseinsatz im medizinischen Bereich unternehmen und suchst nach Erfahrungsberichten? Gerne erzähle ich dir von meinen Eindrücken und Erfahrungen aus meinem medical internship in Vietnam.
Das Allerwichtigste zu Beginn: Ich lebe noch! Keine Selbstverständlichkeit, wenn man sich mit den gegebenen Umständen auseinandersetzt.
Wie es der Titel schon erahnen lässt, war ich vier Wochen in Vietnam auf der Orthopädie und Anästhesie tätig. Vietnam an sich war mir kein fremdes Land. Schon oft habe ich dieses schöne Land mit meinem Motorrad bereist und auch viele Freundschaften geschlossen. So ist es für mich wirklich nichts Ungewöhnliches, das enorme Verkehrschaos zu verstehen, das Essen nicht genau identifizieren zu können oder Ratten - so groß wie ein Fußball - zu sehen. Jedoch hatte ich überhaupt keine Vorstellung davon, wie das Gesundheitssystem funktioniert. Nun klar, tief in meinem Innern wusste ich insgeheim was auf mich zukommt… jedoch wurde ich trotzdem immer wieder aufs Neue überrascht.
Mein Einsatzort war ein Krankenhaus für Traumatologie und Orthopädie in Ho Chi Minh City. Ich lebte in einem kleinen Appartement und hatte wirklich Glück mit der Lage und der Ausstattung. Das Krankenhaus war 25 Minuten mit dem Motorrad entfernt. So war es jeden Morgen eine Herausforderung heil im Krankenhaus anzukommen. Wie? Du denkst das wäre gar nicht so schwierig…? Vielleicht überzeugt dich das Bild vom Gegenteil.
Heil angekommen beginnt der Dienst um 08.00 Uhr mit einem großen Kaffee und dem Austausch mit den Kollegen. Leider sprechen nicht alle gut Englisch und so kann man sich das Leben deutlich vereinfachen, wenn man sich einen Grundwortschatz Vietnamesisch aneignet. Nach einer Weile beginnt dann der Betrieb im OP. Ein Patient nach dem anderen wird eingeliefert und die Vorbereitungen werden durch das geübte Personal erledigt. Es werden Witze gemacht, es werden Lieder gesungen (keine Angst, das ist ganz typisch in Vietnam: Jeder singt, egal wann, egal wo!) und der Patient wird unter etwas anderen Bedingungen steril gemacht. So wird gebrauchtes Besteck in eine Jodlösung gelassen, abgewaschen, manuell getrocknet und in ein Leintuch gewickelt… jetzt noch ein «steril» Kleber drauf und schon läuft's!
Die Illusion, dass man als MacGuyver in den OP gerufen wird und nun alles erdenkliche selbstständig machen darf, möchte ich vornewegnehmen. Wie überall muss man auch hier Einsatz zeigen, Interesse demonstrieren und viele Fragen stellen, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Hier bewirken Sozialkompetenz und Neugier wahre Wunder! Auch sollte einem bewusst sein, dass Kakerlaken oder Ratten auch im Krankenhaus anzutreffen sind.
Neben der Hygiene ist auch das Essen im Krankenhaus ein wahres Abenteuer. In den zumeist überfüllten Patientenzimmern wird mit Gaskochern gekocht! Ja genau, richtig gelesen! Denn die Patienten und deren Familien sind selbst für die Verpflegung verantwortlich. Es liegen überall Essensreste herum, was wiederrum die Kakerlaken oder Ratten anzieht und so schliesst sich dieser Teufelskreis.
Während wir in Europa nicht häufig mit Krankheiten wie «Tuberkulose» konfrontiert werden, ist dies in Vietnam ein gängiges Krankheitsbild. Ich sah viele Patienten mit Tuberkulose, ein Patient hatte sogar Tuberkulose im Hüftgelenk. Zugegebenermassen sehr eindrücklich, denn sonst gehört das eher der Theorie aus dem Lehrbuch an.
In meiner zweiten Woche auf der Anästhesiologie hatte ich dann mein großes persönliches Erlebnis. Ich bin mir sicher, dass es im Verlauf jeder medizinischen Karriere Momente geben wird, in welchen die eigene Intuition Schlimmeres verhindern kann. In meiner Karriere hatte ich nun meinen ersten solchen Moment. Wir hatten einen Patienten mit einer Femurfraktur eingeliefert bekommen und bereiteten ihn auf die anstehende Operation vor. Der Anästhesist entschied sich in diesem Fall für eine Vollnarkose und leitete diese anschliessend ein. Intubiert lag der Patient nun da, die Chirurgen begannen mit der Operation und ich stand neben dem Patienten und beobachtete dessen Vitalzeichen. Unglücklicherweise war der Anästhesist aus dem Raum gelaufen, um den nächsten Patienten vorzubereiten (auch in Vietnam ist der Begriff «Personalmangel» nichts Unbekanntes). Während seiner Abwesenheit stellte ich fest, dass die Sauerstoffsättigung stetig sank. Als die kritische Grenze von 90 % unterschritten wurde, die Geräte piepsten und sich in der Hektik der laufenden Operation keiner darum kümmerte (ist ja auch klar, ist nicht die Aufgabe des Orthopäden), hatte ich nun die Wahl: reagiere ich oder warte ich ab? Nun… es kostete mich Überwindung, doch ich war mir sicher, dass etwas nicht stimmen konnte. So nahm ich mein Stethoskop, hörte die Brust des Patienten ab und stellte fest, dass keine Atemgeräusche zu hören waren und sich der Brustkorb auch nicht hob. Panisch und fragend schaute ich das Beatmungsgerät an und stellte fest, dass sich das Ventil, welches sich sonst immer hebt und senkt und diese typischen Beatmungsgeräusche von sich gibt, nicht bewegte. In meinem Kopf schrie eine laute Stimme: « Tea, der Typ kriegt keinen Sauerstoff!!! Wenn du nichts unternimmst wird sein Gehirn Apfelmus... Du musst schnell handeln!!», doch ich hatte Angst. Angst, dass ich etwas falsch machen könnte und die Kollegen mich anschreien oder sogar aus dem OP verbannen würden. Schließlich war ich auch noch in einem fremden Land und wusste gar nicht, wie die Hierarchien hier funktionieren.
Nichts unternehmen und abwarten konnte ich jedoch nicht mit mir selbst vereinbaren. So entschied ich mich, den Ambubeutel zu nehmen, um den Patienten vom Beatmungsgerät zu lösen und manuell zu beatmen. Zeitgleich schickte ich einen Pfleger zum Anästhesisten. Sekunden fühlten sich an wie Stunden. Jeder Drücker auf den Ambubeutel war eine Erleichterung, doch gleichzeitig hatte ich Angst vor Konsequenzen. Jetzt konnte ich aber nicht mehr zurück und ich musste für meine Entscheidung einstehen. Künftig würde ich ja viele solche Entscheidungen treffen müssen. Die OP-Tür ging auf, der Anästhesist sieht mich fragend an, sieht das Beatmungsgerät, drückt einige Knöpfe und geht kommentarlos aus dem Raum, kommt zurück und schließt den Patienten wieder an das Beatmungsgerät an. Anschließend nimmt er mich zur Seite, klopft mir auf die Schulter und ich höre die Worte: «Good Job, good job». Ich schluckte und mit einem Mal war ich erleichtert. Meine Intuition war richtig – mein Mut hat sich gelohnt. Dies war der Moment, in dem ich Begriff, wieviel Verantwortung in unseren Händen liegt und wie wichtig es ist, der inneren Stimme zu folgen. Es ist wichtig Mut aufzubringen und für seine Handlungen einzustehen.
Nach diesem Eingriff wurde ich vollends ins Team aufgenommen. Ich wurde zum Essen eingeladen, durfte mich die für Operationen steril machen und assistieren. Mir wurden Techniken und Abläufe angelernt und so durfte ich vieles schon alleine durchführen. Zu meinem nächsten Besuch in Vietnam wurde ich von einem Arzt eingeladen, mit ihm und seiner Familie einen kurzen Strandurlaub übers Wochenende zu verbringen. Die Leute sind sehr freundschaftlich und aufgeschlossen, wenn man erst mal das Eis gebrochen hat. Meiner Ansicht nach bin ich durch den Aufenthalt in der Großstadt und durch die Arbeit im Krankenhaus als Mensch, aber auch als zukünftige Ärztin sehr gewachsen und kann euch deswegen einen solchen Aufenthalt – egal in welchem Land – sehr ans Herz legen. Jedoch solltet ihr schon einige Erfahrungen mitbringen, den nur so kann ein gegenseitiger Austausch auch für alle von Vorteil sein.
Bei Fragen oder Anregungen kannst du mich direkt kontaktieren, vielleicht kann ich dir weiterhelfen!