• Bericht
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  • Schirin Ibrahim
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  • 20.12.2011

Von Skeletten, Albträumen und Lektionen fürs Leben

Im Präpkurs lernt man viel mehr als Anatomie und das korrekte Sezieren eines Leichnams. Lokalredakteurin Schirin Ibrahim sieht sich mit ihren Kindheitsängsten konfrontiert und gewinnt überraschende Einsichten in Fragen über Leben und Sterben, Mut und Einsamkeit.

Als ich klein war fürchtete ich mich vor Skeletten. Ich hatte sogar regelmässig Albträume, die auch Jahre später nichts an Intensität eingebüsst haben. Es schien mir damals, dass die bahren Knochen, gänzlich jeder Menschlichkeit beraubt, nur Böses hervorrufen könnten. Als ob man allein durch sein Fleisch und seinen Herzschlag Mensch wäre und bloß als Mensch zu Gutem fähig. Oder als ob unsere Knochen böse wären und erst, durch unsere Haut und unseren Atem bedeckt, zu etwas moralischem würden. Wann immer irgendwo ein Skelett zu sehen war, weigerte ich mich hinzusehen. Ich verschloss meine Augen, senkte den Blick, sah weg. Ich traute mich nicht, genauer hinzusehen und fürchtete mich vor dem, was mich beim Anblick der blanken Knochen erwarten könnte. Ich war noch ein Kind und wusste es nicht besser.

Heute schaue ich mir Skelette gerne an. Die elfenbeinfarbenen Knochen wirken beruhigend, die Formen sanft und sinnlich. Die geschmeidigen Kurven des collum chirurgicum, die exakt aufeinander abgestimmten Handwurzelknochen, welcher Architekt oder Bildhäuer hätte diese Kraft und Präzision je in solch eine funktionelle Form packen können? Wenn ich einen Schädel betrachte, sehe ich ein Lächeln, manchmal frecher oder schüchterner, je nach Kieferstellung. Aber nie sehe ich etwas Grauenhaftes, Beängstigendes. Meine Albträume sind nur noch verblassende Erinnerungen.

 

Ein entscheidender Tag

Diese Veränderung kam urplötzlich. Von einer Sekunde auf die andere fürchtete ich Skelette nicht mehr. Und zwar dadurch, dass ich begann hinzusehen. In meiner Schule hatten wir ein Skelett, ein echtes. Eines Tages ging ich hin und zwang mich, die Augen offen zu behalten. Ich sah hin, sah näher hin, sah genauer hin und auf einmal verstand ich, wovor ich mich eigentlich gefürchtet hatte. Vor dem Verlust der Identität, der Menschlichkeit, der Zugehörigkeit. Wenn unser Skelett für unsere Mitmenschen keine Verbindung mehr zur menschlichen Existenz hat, dann werden sie uns nach dem Tod auch keine letzte Würde gestatten können, sie werden uns als nicht zugehörig betrachten und uns vergessen. Dann sind wir nur ein memento mori und inmitten des blühenden Lebens, gedenkt keiner gerne der eigenen Sterblichkeit.

Wenn unsere Knochen den Tod repräsentieren und gleichzeitig völlige Anonymität, wie werden sich dann unsere Nachfahren an uns erinnern können. Wenn unser Grab nach Jahren aufgehoben wird, wie können wir erwarten, dass unsere Überreste mit Respekt behandelt werden, lösen sie doch bei Allen Furcht und Ekel aus. Dann landen die Knochen mit hunderten anderen in einem anonymen Massengrab. Allesamt in ewiger Einsamkeit. Davor fürchtete ich mich als Kind, vor dieser kalten Einsamkeit.

 

Der Präpkurs

Vor einigen Monaten sah ich zum ersten Mal ein Skelett, dass noch in seiner sterblichen Hülle war, eine Leiche. Im Präpkurs berührte ich zum ersten Mal einen toten Menschen. Ich war froh, dass ich die Erfahrung mit den Skeletten schon früh gemacht habe. Als ich die nackte Tote auf dem Metalltisch sah, erinnerte ich mich an dieses Gefühl von Einsamkeit und ich bemühte mich, sie nicht wie ein Präparat, ein Versuchsobjekt oder etwas Furchterregendes zu behandeln. Vielmehr stellte ich sie mir lebend vor, wie sie wohl war, was sie so machte, wie sie lächelte. Das half augenblicklich, eine Verbundenheit mit ihr auszulösen, ein Gefühl von Verantwortung und Zuneigung. Ich wollte nicht, dass sie in der Einsamkeit versinkt und ich wollte ihre Körperspende voll und ganz annehmen und von ihr lernen.

Jemand anderes im Präpkurs hat mir auch eine wichtige Lektion fürs Leben erteilt, es waren nur flüchtige Momente aber er hat mir gezeigt, was mir im Leben wichtig sein sollte. Am anderen Ende des Präpsaals lag ein alter Mann auf dem letzten Tisch und sein Gesicht werde ich nie vergessen. Obschon in Formalin getränkt und sichtbar tot, hatte er eines der bezauberndsten Lächeln auf seinen Lippen, welches ich je gesehen habe. Seine Augen schienen leicht zusammengekniffen und seine Pausbäckchen erinnerten an einen glücklichen Buddha. Ein Lächeln, dass einem gleich warm ums Herz wird. Ich musste ihn mir unweigerlich als lieben Opa vorstellen, der mit sich und der Welt im Reinen, auf seiner Veranda sitzt, einen Borsalino auf und friedvoll in den Sonnenuntergang blickt, seine Frau im Arm und dieses Lächeln auf dem Gesicht. Da wurde mir klar, egal welches Ziel man sonst im Leben verfolgt, seinen Lebensabend so verbringen zu dürfen, sollte immer das eine Ziel bleiben, das man nie aus den Augen verliert. Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen als diese Essenz des Glücklichseins und bin diesem Opa und auch allen anderen Körperspendern dafür unglaublich dankbar.

 

Nicht wegsehen

Solche Erfahrungen kann man nur machen, wenn man hinsieht, nicht wegsieht, seinen Blick aufrecht hält und Mut beweist. Sich seinen Ängsten stellt und versucht, jenseits seines Albtraums zu blicken um zu erkennen, was sich eigentlich dahinter verbirgt. Auf den Mutigen der hinsieht, warten wundervolle Entdeckungen am Ende seiner Angst. Es braucht nicht viel Mut dazu, bedenkt man, wie viel Mut es braucht um seinen Körper, nackt und wehrlos, fremden Menschen anzuvertrauen. Menschen, die diesen Körper häuten, aufschneiden, ausweiden und bis auf die Knochen abtragen werden und dabei nicht vergessen dürfen, dass sie mit keinem einzigen Schnitt ein Stückchen seiner Menschlichkeit entfernen können. Denn die reicht bis auf die Knochen, das Menschsein kann man nicht zerstören. Die Einsamkeit wird nicht über ihn herfallen, solange wir diesen Körper noch als Mensch betrachten. Als einer von uns. Solange wir uns nicht davor fürchten und ihn verstoßen, solange wir ihn respektieren und von ihm lernen wollen, solange wir ihn nicht vergessen wollen.

Ich danke den Körperspendern und bewundere ihren Mut. Ich wünsche mir, dass wir alle ein wenig von diesem Mut in unseren Alltag mitnehmen können und wir nicht vergessen, dass wir einen Mitmenschen nie in Einsamkeit versinken lassen.

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