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- Schirin Ibrahim
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- 21.08.2012
Die Pandachirurgen
Lokalredakteurin Schirin Ibrahim entdeckt im Krankenhaus eine vom Aussterben bedrohte Art: die Chirurgen.
So wie der große Panda (Ailuropoda melanoleucadas) Symbol des WWF ist, sollte der gemeine Chirurg zum Sinnbild einer vom Aussterben bedrohten Gattung heimischer Ärzte erklärt werden.
Denn kein anderes Säugetier unseres Planeten begibt sich freiwillig in einen Beruf, der ihm durch seine lebensfeindlichen Arbeitszeiten und die strenge physische Betätigung, die Kraft und Lust zur Fortpflanzung nimmt.
Das musste ich neulich am eigenen Leib erfahren, als ich erstmals bei einer längeren Operation assistieren durfte. Während acht Stunden stand ich schwitzend und von Rückenschmerzen geplagt im Operationssaal und hielt Haken oder den Sauger. Ich fand es ganz wunderbar, faszinierend und lehrreich und hoffe eines Tages auch zur Gattung der Chirurgen gehören zu dürfen, aber als ich nach dem Eingriff in meinen Bürostuhl sank, taten mir meine Eltern leid. In diesem Moment wurde mir klar, dass sie wohl nie Enkelkinder haben würden.
Wer will denn schon einen Panda im Haus?
Denn allein der Gedanke daran, dass ich nach Rapportsitzungen, Patientengesprächen, nicht endendem Papierkrieg, anstrengendem Hakenhalten und literweise Schweißverlust unter der schweren Bleischürze im OP noch nach Hause müsste, um irgendetwas anderes zu tun als auf dem Sofa liegend Pizza zu futtern, brachte mich fast zum geistigen Kollaps. Wenn es jemanden gibt, der nach stundenlangen OPs noch genug Energie hat, sich um seine Kinder und um Haushaltspflichten zu kümmern, dann möchte ich diese Person kennenlernen um ihr eine Tapferkeitsmedaille zu überreichen. Diese Person hat natürlich gut daran getan, ihre Gonaden vor der Röntgenstrahlung im OP zu schützen und sich bereits erfolgreich fortgepflanzt. Aber für den großen Rest von uns, den chirurgischen Nachwuchs, reicht in Zukunft wohl auch der einfache Schilddrüsenschutz völlig aus. Wann sollten wir denn jemals Zeit und Kraft haben, uns fortzupflanzen? Wer will uns denn, wenn wir schweißig und muffelig, mit dunklen Augenringen und aktivem Ischias um 22 Uhr aus dem OP kriechen?
Eine 100 Stundenwoche bei niedrigem Gehalt und unklarer Weiterbildungsordnung reicht ja schon aus, um den chirurgischen Assistenzarzt zur Mangelware zu machen. Da müssten nicht noch die anstrengenden Eingriffe hinzukommen, die einem jungen Chirurgen oder einer jungen Chirurgin zusätzlich physisch den Rest geben und ihn oder sie reproduktionstechnisch zum Pandabären werden lassen.
Als ich aus dem OP kam, taten meine geschwollenen Beine dermaßen weh, dass ich sie gleich hochlegen musste. Mein Schwindelgefühl war ein weiteres Zeichen dafür, dass sich meine Zirkulation nur noch in den unteren Extremitäten abspielte. Ich war dehydriert, meine Kleidung komplett durchgeschwitzt und ich stank. Irgendwo klebte Blut an mir und gegessen hatte ich zuletzt vor 12 Stunden. Noch nie war ich so erleichtert darüber, Single zu sein und in eine einsame Wohnung heimzukommen. Niemand würde mit mir Abendessen oder kochen wollen, niemand will mich noch ins Kino oder auf Verwandtenbesuch schleppen, kein Kind weint nach mir oder will mir seine Basteleien zeigen. Ich war euphorisch darüber, alleine zu duschen, zu essen und mich danach alleine aufs Sofa zu pflanzen, um mich auszuruhen. Möglicherweise fehlt es mir an Übung oder ich bin einfach ein Weichei, aber ich war nach diesem einen Mal im OP doch recht ausgelaugt. Immerhin raffte ich mich nach einiger Zeit nochmals hoch, um ein paar Runden im Park zu joggen. Erstaunlicherweise schmerzten die Gelenke danach weniger. Wieder zu Hause und nach einer weiteren Dusche, sank ich erschöpft ins Bett und schlief die nächsten zehn Stunden wie ein Bär. Ich war zum perfekten Panda geworden.
Pandas sind auch nur Chirurgen
Was Wikipedia über Pandas erzählt, könnte mit einigen Änderungen, auch als Habitusbeschreibung eines Chirurgen fungieren.
„Das Fressen geschieht meist in einer sitzenden Haltung, sodass die Vorderpfoten frei sind, um nach Nahrung zu greifen. Die Tiere sind dämmerungs- oder nachtaktiv und schlafen bei Tage in hohlen Baumstämmen, Felsspalten oder Höhlen. In den Bambusdickichten legt der Panda tunnelförmige Wechsel an, die seine Futterplätze mit den Schlafplätzen verbinden."
Also: „Chirurgen sitzen wann immer sie können und beginnen dann sogleich zu futtern, sie wissen nämlich nie, ob dies gerade die letzte Mahlzeit des Tages war. Sie sind dämmerungs- und nachtaktiv - je nach Schichteinteilung. Bei Dienstantritt am Tage sind sie noch verbraucht vom letzten Nachtdienst und schlafen in allen möglichen Ecken und Löchern, manchmal auch beim Stehen am OP-Tisch. Im Klinikdschungel legt der Pandachirurg überall seine Sachen aus, damit er überall futtern und schlafen kann."
Wikipedia: „Große Pandas sind Einzelgänger, die ein Revier von rund 4 bis 6 Quadratkilometern bewohnen. Die Territorien von Weibchen haben ein rund 30 bis 40 Hektar großes Kerngebiet, das gegen Artgenossinnen verteidigt wird. Männchen sind flexibler und zeigen kein Territorialverhalten, ihre Reviere haben kein Kerngebiet und überlappen sich oft mit denen anderer Männchen. Trotzdem gehen sie Artgenossen aber meist aus dem Weg. Während ihrer Wanderungen markieren sie ihre Route, indem sie Bäume zerkratzen oder sich daran reiben, und durch Urin.
Im Gegensatz zu anderen Bärenarten halten Große Pandas keine Winterruhe, sie wandern während der kalten Jahreszeit lediglich in tiefergelegene Regionen."
Chirurgen: „Meist sind Chirurgen Einzelgänger. Sie versuchen das Klinikrevier sowie das OP-Personal zu ihrem Territorium zu machen und kämpfen darum mit anderen Chirurgen. Einige Chirurgen gleicher Disziplin verbinden sich oft, um gegen Chirurgen anderer Disziplinen einen Vorteil im Revierkampf zu haben. Chirurginnen gehen dabei häufig verdeckter vor und hegen auch gegen Artgenossinnen Aggressionen. Die Männchen verbrüdern sich nicht selten nach ausgetragenen Revierkämpfen und langen Schockraumdiensten und gehen dann zusammen in den Biergarten. Ob sie dabei Bäume zerkratzen, sich daran reiben oder urinieren, kann nicht beurteilt werden. Im Gegensatz zu anderen medizinischen Fachrichtungen, haben Chirurgen kaum Urlaub und können dank Pikett- und Hintergrunddiensten auch abends oder am Wochenende nicht zur Ruhe kommen."
Rettet die Pandas!
Ein Pandachirurg hat folglich kein leichtes Leben. Er arbeitet so viel und bis zur totalen Erschöpfung, dass er keine Zeit hat, beziehungs- und paarungswillige Artgenossen kennenzulernen. Niemand will eine Beziehung mit ihm, weil er nie zu Hause ist, keine Freizeit hat und nach Feierabend nur essen und schlafen will. Ein allfälliger Partner wäre bloß damit beschäftigt, die stinkende Wäsche des Pandachirurgen zu waschen, seine erschöpften Muskeln mit Diclofenac-Salbe einzucremen und ihm Nahrung zuzubereiten. Der Pandachirurg ist immer zu müde, um auch nur daran zu denken, dass er Nachwuchs produzieren sollte. Seine Gonaden sind durch die Strahlenbelastung am Arbeitsplatz schon zu degeneriert und die Brieftasche immer noch zu leer dafür. Sollte er auf wundersame Weise dennoch Jungtiere in die Welt setzen, werden ihn diese meist nur in schlafender Position erleben oder gar nicht, weil er ständig Nachtdienst hat und am Wochenende auf Kongressen ist. Leider kommt nicht nur der leibliche Nachwuchs zu kurz, auch der akademische Nachwuchs des Pandachirurgen, seine Assistenzärzte, werden stark vernachlässigt, bis er schließlich meist in andere Disziplinen wechselt.
Daher plädiere ich dafür, dass der Pandachirurg zum Notfall erklärt wird und auf die internationale Artenschutzliste kommt. Wir sind alle gefordert, ihn vor dem Aussterben zu schützen und dafür zu sorgen, dass Chirurgen nicht immer mehr zu Pandas werden, sondern es trotz ihres Jobs noch schaffen, eine Beziehung, Familie und Zeit für Nachwuchs - egal ob akademisch oder genetisch - zu haben.