• Glosse
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  • Danilo Bzdok
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  • 16.09.2009

Morbus medicus

Bei aller hochakademischer Schulmedizin ist uns vielleicht eines verborgen geblieben: Unter Umständen ist die Medizin ja selbst eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die sie ausübenden Menschengruppen! Nachfolgend der Versuch, sich einer chronischen Krankheit unter Medizinstudenten zu nähern.

Müder Arzt - Foto: Creative Collection
Morbus medicus kann jeden treffen.

 

Definition

Beim Morbus medicus handelt es sich um einen chronisch-rezidivierend auftretenden Symptomkomplex, der sich charakteristischerweise um den Beginn bzw. im Laufe eines Medizinstudiums mit großer Penetranz klinisch manifestiert.

 

Epidemiologie

  • In vielen klinischen Studien wurde immer wieder eine hoch signifikante Korrelation zwischen Abiturnote und Morbus medicus ermittelt, wodurch dieser Zusammenhang in der Literatur mittlerweile als epidemiologisch gesichert betrachtet wird.
  • Immer mehr deutsche, aber auch ausländische medizinische Fakultäten werden davon heimgesucht. Sprich, es ist eine steigende Inzidenz zu verzeichnen.

 

Medizinstudent beim Lernen - Foto: Thieme Verlagsgruppe

Die hoch signifikante Korrelation zwischen
Abiturnote und Morbus medicus ist nachgewiesen

 

Klassifikation

I) Morbus medicus overachievicus

  • Der Lebensraum, in dem sich diese Patienten wohlfühlen, ist vor allem in den vorderen Reihen der Vorlesungssäle anzuordnen, weil sie hier nicht nur im Randbereich des Geräuschpegels sitzen, sondern auch nur hier in den Genuss kommen, auch die letzten womöglich klausurrelevanten Nebensätze des Dozierenden sorgfältig intellektuell zu verdauen.
  • Im Rahmen von allgemeinen Praktika können Morbus-medicus-Erkrankte Fragen von Kommilitonen nach einer möglichen Zusammenarbeit oder Fragen um Hilfestellung mitunter aufgrund eines spontan-intermittierenden Ganzkörperneglekts der auditiv-taktilen Sinnesqualitäten nur schlecht wahrgenommen werden. Sie sind sich selbst schon der beste Partner, den man sie sich wünschen können, weitere Kontakte lösen eher Furcht aus.

 

Lerngruppe -- Foto: Thieme Verlagsgruppe

Lerngruppen werden gebraucht, lösen aber auch Furcht aus
- kann man den Kommilitonen trauen?

II) Morbus medicus hyperparticus falsus

  • Bei dieser Form fällt der Betroffene dem fälschlichen Glauben anheim, mehr Sozialkontakte zu pflegen, als das wirklich der Fall ist. Auch fiktive Besuche auf Feiern und willkürliche Angaben von vermeintlichem Alkoholkonsum/Drogenkonsum sind hier oft die Regeln. Goldstandard in der Diagnostik besteht in einem eklatantes Missverhältnis zwischen den angeblichen kürzlichen Freizeitinvestitionen und tatsächlichem Faktenwissen.

 

III) Morbus medicus hyperventilens

  • Es müssen mindestens 2 Kriterien erfüllt sein
    1) Tachypnoe > 20/min mit konsekutiver respiratorischer Alkalose
    2) psychoneurologischer Status
    a) Verwirrtheit
    b) verminderte Orientierung in Raum und Zeit
    3) dissoziierte Satzstrukturen
    4) hektisch-myoklonale Bewegungsmuster
    - sind sogar alle 4 Kriterien erfüllt, spricht man auch vom Morbus medicus hyperventilens per magna
  • klassische Triggerfaktoren
    - Klausur folgt innerhalb der nächsten 3 Tage
    - Staatsexamen innerhalb der nächsten 3 Monate
    - der Patient droht, zu spät zu einer Lehrveranstaltung zu kommen
    - Wird abgezähltes Lehrmaterial ausgeteilt, können Vernichtungsängste, bei der Vorstellung kein Exemplar abzubekommen, entstehen. Schmerzen strahlen oft auch in den linken Arm aus. DD: Myokardinfarkt
  • Der fehlende Ausschluss eines medical student panic syndrom (MSPS) nach Fug ist ein schwerer Kunstfehler [siehe Herold].

Ätiologie

Risikofaktoren

  • Herkunft aus einer Medizinerfamilie oder mindestens ein Elternteil ist Lehrer
  • Betuchtes Elternhaus: attraktives Einklagen ins Medizinstudium möglich
  • Westliche postmoderne Individualitäts- und Konkurrenzgesellschaft
  • Abitur mit überdurchschnittlichem Erfolg. Es wird weiterhin immer wieder von einem grassierenden "Ich-studiere-Medizin-lediglich-weil-ich-ein-1-er-Abi-hatte-Syndrom" berichtet, dessen Existenz nach wie vor nicht eindeutig belegt werden konnte
  • Charakterprofil
  • Negative Charakterfaktoren: Messias-Komplex, Gott-Komplex, Narzissmus oder Egozentrismus mit Gier nach gesellschaftlicher Anerkennung
  • Die Patienten wollen sich selbst heilen (am besten eignet sich dafür später natürlich ein Facharzt der Psychiatrie). DD: Psychologiestudent
  • Positive Charakterfaktoren: Nächstenliebe, Idealisiertes Weltbild, Altruistismus

 

Pathogenese

Einen nicht unwesentlichen Anteil spielt der Numerus clausus, welcher primär über Zulassung oder Ablehnung zum Medizinstudium richtet. So liegt es in der Natur der Sache, dass ein erstes Semester von Medizinstudierenden ein Sammelbecken aus den jahrgangsbesten Schulabgängern ganz Deutschlands ist.

Der noch frische Student sieht sich gleich zu Beginn des Studiums mit einer oft bis dahin selten gekannten Unannehmlichkeit konfrontiert: Die anderen sind genauso gut oder - schlimmer - sogar besser als er selbst. War es der Student doch ein Leben lang gewohnt, zur Spitze zu gehören, besteht nun die greifbare Gefahr in die bedeutungslose Mittelmäßigkeit abzudriften.

Von diesem Ausgangsszenario nimmt ein existenzielles Trauma seinen verheerenden Ausgang, innerhalb dessen die Wahrnehmung der eigenen Person und insbesondere ihrer tatsächlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten durch diese unliebsame, den Stolz schmerzhaft kränkende Erfahrung früher oder später neu definiert werden muss.

 

Symptome

  • Dissoziale Ellenbogen-Mentalitäts-Störung: Geradezu pathognomisch ist hierbei, der wahnhafte Glaube sich über die unmittelbaren Kommilitonen hinwegsetzen zu müssen, obwohl objektiv derzeit in Deutschland ein zunehmender Ärztemangel besteht und auch sonst kaum ein gegenseitiges Beschränken der beruflichen Zukunft möglich ist.
  • Paramedizinale Aphasie: Unfähigkeit, Gesprächsgegenstände zu handhaben, die nicht im Zusammenhang mit Medizin bzw. ihrem Studium zu tun haben.
  • Dramatisch eingeschränktes Freizeitkontingent: Schwierigkeit, alte Freundschaften zu pflegen; Aufgabe alter Hobbys; mitunter wird die eigene Allgemeinbildung nicht unwesentlich in Mitleidenschaft gezogen. Das Nachrichtenschauen wird zum Beispiel beliebtes Opfer der gnadenlosen Freizeitrationalisierungs- und Lernkontigenzmaximierungs-Strategie. Gelebt wird also in der Lernpause.
    Beispiel einer typischen Situation: "Na du. Wir haben uns ja schon ewig nicht mehr gesehen. Wir sollten unbedingt endlich mal wieder was machen! In 4-5 Wochen hab ich garantiert Zeit. Ich ruf Dich dann nochmal an…"

 

Frau beim Telefonieren - Foto: Photononstop

"Ich rufe dich in 5 Wochen wieder an!"


Präklausurale Selbstverwahrlosung:
Oft erscheinen die Studenten kurz nach der Klausur mit kürzeren Haaren (hatten Zeit, zum Friseur zu gehen) und männliche Patienten rasieren sich wieder mit größerer Regelmäßigkeit bis sich die nächste Klausur in sichtbarer Nähe befindet.
Gleiches Prinzip zeigt sich auch in geringerer präklausuraler Varianz in der Bekleidung oder ebenso erhöhte kulinarische Monotonität infolge logistischer Ressourcenkrise (keine Zeit, einkaufen zu gehen).

  • Gruppendynamisch-destruktiver Verhaltenskomplex
    Es werden mehr Bücher in der Bibliothek ausgeliehen, als man braucht, damit die anderen keine mehr bekommen.
    Liefern Dozenten Vorlesungsunterlagen an Einzelne für die Semestergemeinschaft, bekommt diese die Materialen teilweise nie zu Gesicht und oft werden nur dem eigenen unmittelbaren vertrauten Kreis zugespielt, dem die Patienten im Grunde eigentlich auch misstrauen (wer weiß, was die alles nicht rausrücken?), aber der ihnen im Gegenzug auch ab und an nützt.
    Heimliches Matrikelnummer-Sammeln, um Noten der Kommilitonen erschnüffeln zu können.

 

Bizeps - Foto: Photo Disc

Spitze Ellenbogen werden mitunter eingesetzt ...


Gönnen sie sich dann doch mal eine wohlverdiente Auszeit mit Freunden, werden sie von dem leise pochenden Gedanken geplagt, dass sie ja eigentlich noch dies und jenes zu lernen hätten.

 

Komplikationen

  • Erhöhte Empfindlichkeit für: Selbstmedikation, diverse Klassen von Süchten (Café), seit kurzem Neuro-Enhancement en vogue (Modafinil, Ritalin)
  • Tendenz, sich mutmaßlich des Schlafes zu entziehen (steigert schnell und leicht die Nettolernzeit)
  • Im Verhältnis zu bereits etablierten Mitgliedern der gleichen Zunft sind ebenfalls zwei Extreme abgrenzbar
  • 1. Der Besserwisser: Der Patient glaubt, der gesamten Medizin in ihrer Ganzheitlichkeit mächtig zu sein, was die Konsultation eines dann zweiten Spezialisten gänzlich erübrigt. Typisch insbesondere gegen Ende und nach dem Studium.
  • 2. Der Hypochonder: Jede Vorlesung ist ein Hinweis auf mögliche eigene Krankheiten, die der Patient bisher noch nicht an sich selbst bemerkt haben könnte. Nach dem Vorlesungsstoff richtet sich die Fachrichtung der Ärzte, die er anschließend gehäuft aufsucht. DD: Psychologiestudent

 

Diagnostik

Paramedizinale-Aphasie-Provokationstest:
Der Arzt spricht innerhalb eines ungezwungenen Gesprächs mit dem Patienten schlichtweg ein nicht-medizinisches Thema an.

  • Geht der Patient gar nicht bis kaum auf das Thema ein (leichte Form)
  • bzw. wechselt er sofort wieder auf ein medizinisches Thema über (in Stadien mit fulminantem Verlauf)

gilt ein Morbus medicus bei gleichzeitigen charakteristischen Symptomen als bewiesen.

Da der Test von den gesetzlichen Krankenkassen zurzeit noch als experimentell eingestuft wird, erfolgt auch keine Übernahme der Kosten.

 

Differenzialdiagnose

  • Jura-Student
  • Psychologiestudent
  • Medical student panic syndrom (MSPS)
  • Myokardinfarkt
  • Burnout-Syndrom
  • Boreout-Syndrom

 

Therapie

Trotz vielversprechender Ansätze, fehlt es gegenwärtig noch an einer kausalen Therapie. Demzufolge müssen symptomatische Therapieverfahren herhalten.

  • Linderung, wenn auch kein kurativer Heilungsansatz, besteht im Erwerb eines neuen Lebensabschnittsabschnittsgefährten:
  • Ein langfristig positiver Effekt (Linderung der Symptome) konnte bereits nachgewiesen werden und wird zuweilen auch klinisch augenfällig. Ist der Patient dem Diagnostiker schon länger bekannt, handelt es sich meist um eine Blickdiagnose.

 

Pärchen beim Küssen - Foto: creativ collection

Ein neuer Freund oder eine neue Freundin bewirken mitunter Besserung


Leider ist nach Trennung vom neuen Partner in den meisten Fällen mit einem Rückfall zu rechnen - erschreckend hohe Rezidivrate.

  • Kognitive Verhaltenstherapie
  • Ziel ist es, dem Betroffenen das Mantra "Ich muss über mich selbst und nicht über andere hinaus wachsen" und "Medizin ist ein sozialer Beruf!" möglichst eingehend sowie langwirkend einzutrichtern.
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