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- Marita Thiel
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- 16.12.2013
Modellstudiengänge für Medizin
Durch die medizinischen Studiengänge in Deutschland fegt seit geraumer Zeit ein frischer Wind. Viele Universitäten verändern ihr Curriculum. Immer mit dem Ziel, das Studium noch praxisnaher zu gestalten. Doch welche Reformen gibt es und was haben die Medizinstudenten für Vorteile davon? Marita Thiel schafft Ordnung im Ausbildungsdschungel.
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Nach wie vor gilt das Medizinstudium als das härteste und anspruchvollste Studium überhaupt. Naturwissenschaftliches Wissen verdoppelt sich alle zehn Jahre und medizinische Standards unterliegen einem ständigen Progress. In der Konsequenz werden Curricula von Jahr zu Jahr dichter gepackt und mit neuen Fakten und Fächern angereichert.
Die meisten Studenten arrangieren sich irgendwie mit dieser kräftezehrenden Situation und wandeln zwischen Frustration und Burn out. Auf der anderen Seite kämpfen die Lehrenden mit einer wenig zufriedenstellenden Situation. An erster Stelle beklagen sie, dass bei Medizinstudenten die Faszination für die Medizin zugunsten von Prüfungsordnungen und IMPP-Spitzfindigkeiten auf der Strecke bleibt. Modellstudiengänge versuchen, eine Lösung für diese Misere zu bieten.
Neue Curricula
Vor diesem Hintergrund ist der geänderte Paragraph 41 der Approbationsordnung ein Hoffnungsschimmer. Er erlaubt Universitäten vom herkömmlichen Studienverlauf abzuweichen. Lediglich eine Gesamtstudiendauer von sechs Jahren und das Zweite Staatsexamen am Ende des Studiums sind vorgeschrieben. An einigen Studienorten senkte man gleichzeitig die Hürden der Zulassung. An der Medizinische Hochschule Hannover beispielsweise werden im 2005/2006 etablierten Modellstudiengang Humanmedizin „HannibaL“ (Hannoversche integrierte berufsorientierte adaptive Lehre) Bewerber bis zu einem Notendruchschnitt von 1,7 zu einem persönlichen Auswahlgespräch eingeladen.
Alle bundesdeutschen Modellstudiengänge haben das Ziel, vom ersten Studientag an klinische Medizin und Naturwissenschaft miteinander zu verknüpfen. Der Gedanke ist nicht neu. Bereits in den Hippiezeiten der Siebziger Jahre beseelte der anthroposophische Geist zwei sonst wohl gottvergessene Städtchen irgendwo zwischen Ruhrgebiet und Sauerland: Witten und Herdecke. In der Folge wurde dort 1982 der Universitätsverein Witten/Herdecke e. V. aus der Taufe gehoben. Das Medizinstudium in Witten Herdecke war von jeher dem ganzheitlichen Denken verpflichtet. Mit der neuen Approbationsordnung konnte sich die kleine Universität von noch mehr tradiertem Staub befreien und etablierte einen Modellstudiengang im Fach Humanmedizin. Mittlerweile sind auch an anderen Studienorten erfolgreiche Modellstudiengänge als Alternative zur herkömmlichen Studienstruktur etabliert worden.
Studium mit und ohne Physikum
Die Idee, dass Medizin mehr ist als eine Anhäufung von Fakten, konnten die Wittener somit in eine neue Form gießen. Seither stehen Themenblöcke zu Organsystemen mit anschaulichen Patientenfällen im Mittelpunkt der Ausbildung. Hinzu kommt der Wegfall des Physikums. Im Rahmen der ersten Studienphase führt die Fakultät fünf Prüfungen durch, die das staatlich anerkannte Äquivalent zum Ersten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung (Physikum) darstellen. Für Naturwissenschaftsmuffel mag ein Medizinstudium ohne Physikum ein echtes Highlight darstellen. Vor allem aber bedeutet es die Ausrichtung der Prüfungen auf die Lehre der jeweiligen Universität. Was für den Prüfling ein deutlicher Vorteil ist, könnte sich aber für Studienortswechsler als Fallstrick erweisen. Selbstverständlich ist „kein Physikum“ nicht mit „keine Naturwissenschaft“ gleichzusetzen. Der neue Trend favorisiert lediglich eine Aufsplittung von Physik, Chemie und Biochemie. Diese Fächer werden nicht länger als Einzelfach angeboten, sondern den jeweiligen Organsystemen zugeordnet und bis zum Ende des Studiums in gut verdaulichen Dosen geprüft. Hier muss nun jeder für sich entscheiden, welcher Art des Lernens für ihn die beste ist.
Mancherorts ist man dem Physikum auch treu geblieben. An der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg verlangt das Mannheimer Reformierte Curriculum für Medizin, MaReCuM, nach dem ersten Studienabschnitt wie gehabt das Physikum. Dass die Absolventen bundesweit im Notendurchschnitt stets ganz oben rangieren, belegt den Erfolg der Reform.
Ohne Prüfung geht es nicht
Es ist ebenfalls ein Trugschluss zu glauben, dass mit einem Modellstudiengang der Weg zur Approbation im Schlaf zu gehen sei. Prüfungen und steinige Pfade gehören immer noch dazu. Auch der Modellstudiengang des RWTH Aachen kommt nicht ohne Prüfung aus. Hier folgt dem einführenden Semester die ärztliche Basisprüfung. Wer erfolgreich abschließt, rutscht hinüber in vier weitere klinische Semester, gefolgt vom Praktischen Jahr, das mit dem allerorts üblichen STEX II abschließt.
Ebenso unterliegen natürlich auch Neigungs- und Wahlbereiche der Studienordnung und damit einer Prüfung. An der Uni Hamburg-Eppendorf schließen neben neunzehn Pflichtmodulen zusätzliche Wahlpflichtmodule jeweils mit einer Prüfung ab. Und ein Nichtbestehen der ersten mündlichen Zwischenprüfung nach dem 3. Semester bedeutet ein endgültiges Aus für ein Weiterstudium.
Hand in Hand: Theorie und Praxis
Und dennoch, die Modellstudiengänge distanzieren sich bewusst vom so genannten Bulimie-Lernen (alles reinfressen und unverdaut wieder ausspucken). Im Heidelberger Curriculum Medicinale, HeiCuMed, ersetzt man deshalb stumpfes Auswendiglernen durch praktisches Training. Die jungen Mediziner erwerben ihr Wissen ausgehend vom Beschwerdebild des Patienten, während nach alten Curricula geschulte Mediziner umgekehrt versuchen, Faktenwissen auf den Kranken zu übertragen. Die Ruhr-Uni Bochum legt außerdem viel Wert darauf, auch in Prüfungen Theorie und Praxis zu einer sinnhaften Einheit zusammenzuschmieden. Sei es mit mündlich-praktischen Prüfungen am Krankenbett oder durch das Erstellen fallbezogener Portfolios.
Neue Lehrmethoden
Hauptmerkmal aller Modellstudiengänge sind neue Lehrmethoden. Spitzenreiter sind das Problemorientierte Lernern (POL) in Kleingruppen und die ganzheitliche Betrachtung von Krankheiten und Organsystem in thematischen Blockeinheiten. In Hamburg Eppendorf ist die neue Form des Lehrens und Lernens ein echter Spitzenreiter. Die ganzheitliche Analyse medizinischer Zusammenhänge erfolgt hier nach strikter Dreiteilung. Alles beginnt mit der Normalfunktion des Körpers. Dann geht es weiter zu Symptomen maßgeblicher Erkrankungen und mündet in der hohen Kunst der Differentialdiagnose. Beim Modellstudiengang des RWTH Aachen stehen neben herkömmlichen Vorlesungen und Seminaren, vor allem Praktika und Bedside-Teaching im Vordergrund. Dies bewertete der Hartmannbund 2009 als besonders herausragend und kürte die Universität mit seinem Ausbildungspreis.
Ansprechende Stundenpläne mit interaktiven Lerneinheiten kreieren ist das eine. Zeit haben, alle Inhalte abzuspeichern, das andere. Dessen ist man sich an der Ruhr-Universität in Bochum bewusst und integriert gezielt Freiräume für das Eigenstudium in den Stundenplan. Im Mittelpunkt der Ausbildung stehen auch hier Organe und Organsysteme und die damit verbundenen wichtigsten Krankheitsbilder. Gleichzeitig nimmt man die Grundlagen ärztlichen Handelns aus ethischer und gesundheitsökonomische Sicht unter die Lupe. Was für einen herkömmlichen Studiengang undenkbar wäre, machen die Kölner mit ihrem Modellstudiengang möglich. Bereits in den ersten Semestern werden Themen wie Anämie, Karzinogenese, Tod und Trauer, Vergiftung und Koma, Diabetes mellitus und Hepatitis abgehandelt. Ein ganz besonderer Leckerbissen für die angehenden Mediziner ist das Kölner StudiPat. Darin begleitet jeder Student einen chronischen kranken Patienten über vier Jahre und legt in regelmäßigen Abständen einen Bericht über den Verlauf des Krankheitsgeschehens vor.
Förderung individueller Interessen
Ein unschlagbares Plus der neuen Studiengänge ist die Tatsache, dass sie der Individualität des Studenten Rechnung tragen. Das Modellstudium an der Berliner Charité setzt sich gezielt aus Pflicht- und Wahlpflichtmodulen zusammen. Viele Studenten bemängeln jedoch den verschulten Aufbau mit vielen Pflichtveranstaltungen mit strengen Anwesenheitskontrollen. An der European Medical School Oldenburg Groningen, einem deutsch-niederländischem Kooperationsprojekt, werden die Studierenden durchlaufend in Kommunikation und Forschungspraxis geschult. Neben vielen praktischen Blockeinheiten in unterschiedlichen Kliniken sind auch Zeiten für das Schreiben einer Forschungsarbeit eingeplant. Allerdings erhöht sich damit die Semesterwochenzahl von den üblichen 30 Wochen pro Jahr auf 40 Wochen.
Doch es lässt sich auch eine Kurzversion ausfindig machen. Die Kassel School of Medicine bietet zusammen mit der Universität Southampton einen lediglich fünfjährigen, bilingualem Studiengang mit strukturiertem Berufseinstieg durch ein so genanntes Foundation Year an.
Die Kostenfalle
Neben individuellen Präferenzen gilt es, Produkt und Portemonnaie gleichermaßen zu prüfen. Modellstudiengänge können durchaus mit zusätzlichen Kosten und Gebühren verbunden sein. Der ab 2013/2014 in Stettin angebotene Studiengang steht mit seiner jährlichen Gebühr von 10.000 Euro sicherlich an der Spitze.
Interview
(das Interview führte Johanna Reiser)
Interview mit Tobias Teßmann, Medizinstudent an der Universität zu Köln. Dort wurde 2003 ein Modellstudiengang eingeführt.
> Hast du dich bewusst für einen Modellstudiengang entschieden?
Ja habe ich. Die Erwartung war, in manchen Teilen "bessere" Lehre zu bekommen, sprich modernere, interaktivere Methoden und - für mich als Motivation sehr wichtig - von Anfang an auch klinische und praktische Inhalte zu erfahren.
> Was läuft denn bei euch anders als im Regelstudiengang?
In manchen Punkten war die Erwartung zu hoch und der Unterschied gar nicht sonderlich ausgeprägt. Verschulte Stundenpläne, unmotivierende Vorlesungen haben wir in Köln genauso wie anderswo auch. Ein großer Unterschied sind die ein bis zwei Wochen dauernden Kompetenzfeld-Veranstaltungen. Das sind meist fünf interdisziplinäre Vorlesungen vom ersten Semester an zu wirklich buntgemischten Themen. Auch gibt es regelmäßige praktische Kurse, zum Beispiel Untersuchungs- und Nahtkurse oder Notfallschulungen.
> Was noch gefällt dir nicht so?
Zum Beispiel die Klausuren zu den Kompetenzfeldern. Teilweise sind sie lächerlich einfach und somit unnötig. Würde man sie aber deutlich schwieriger machen, wäre der Lernaufwand parallel zu den "regulären" Fächern zu groß. Einen möglichen Lösungsansatz sehe ich in interaktive Prüfungen, die nicht sonderlich schwierig sind, aber zur Wiederholung des Gelernten dienen. Und klar, ab und zu gibt es noch Einführungsprobleme bei den praktischen Kursen.
> Wo siehst du Vorteile gegenüber dem Regelstudiengang?
Sehr angenehm ist, dass unser schriftliches Physikum aufgeteilt ist: Immer direkt im Anschluss an das Semester, in dem ein Fachblock gelehrt und geprüft wurde, schreiben wir die entsprechende Physikumsklausur dazu.
> Wie kompliziert ist ein Ortswechsel oder ein Auslandssemester bei euch in Köln?
Bezüglich des Auslandssemester gibt es keine großen Unterschiede, ich denke, da muss immer vieles individuell geregelt werden. Uniwechsel sind bei uns sehr gut machbar, das Physikum und die Scheine werden ohne größere Probleme anerkannt beziehungsweise "verrechnet". Ich glaube, in Aachen beispielsweise ist das schwieriger, da dort das Physikum erst nach sechs Semestern abgelegt wird.
> Dein Resümee?
Mehr und häufigere Lehre am Patienten ist sehr gut -und darf auch noch mehr werden!
Infos zu den Modell/ Reformstudiengängen der jeweiligen Universitäten
Eine Übersicht der verschiedenen Modellstudiengänge findet ihr hier:
Modellstudiengänge an deutschen Unis
Medizinstudiengang Brandenburg
Medizinstudiengang RWTH Aachen
Medizinstudiengang Hamburg Eppendorf
Medizinstudiengang Witten/Herdecke
Medizinstudiengang Heidelberg/Mannheim
Blog zum Thema Modellstudiengänge