- Interview
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- Das Interview führte Carola Schindler
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- 19.08.2022
Wie PROMETHEUS zur Klitoris kam
In der Neuauflage des PROMETHEUS, die im September erscheint, ist nun erstmals das weibliche Bulboklitoralorgan ausführlich beschrieben. Warum das bemerkenswert ist und wie die Zeichnungen entstanden sind.
Im neuen PROMETHEUS LernAtlas1 wurden die Lerneinheiten zu den äußeren weiblichen Geschlechtsorganen, insbesondere die der Klitoris, im Band „Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem“ ganz neu konzipiert. Dafür stand Anatomie-Professor Dr. Michael Schünke, einer der drei PROMETHEUS Autoren, in engem Austausch mit Professor Dr. Daniel Haag-Wackernagel. Der emeritierte Professor für Biologie in der Medizin ist führender Experte zur Anatomie des Bulboklitoralorgans. Der langjährige PROMETHEUS Grafiker Karl Wesker hat das in Vergessenheit geratene anatomische Wissen in anschauliche Zeichnungen übersetzt.
Warum das bemerkenswert ist und was das für die junge Generation der nachkommenden Mediziner*innen wie auch für erfahrene Ärztinnen und Ärzte bedeutet, darüber haben wir mit Professor Schünke, Professor Haag-Wackernagel und Karl Wesker gesprochen.
In der Neuauflage des PROMETHEUS, die im September erscheint, gibt es eine neue Lerneinheit, die sich ausführlich mit dem Bulboklitoralorgan, das die Klitoris sowie die Vorhofschwellkörper umfasst, beschäftigt. Herr Professor Schünke, warum ist das so bemerkenswert?
Prof. Schünke: Uns ist während der Arbeit zur neuen Ausgabe klar geworden, dass die Lerneinheiten zu den äußeren weiblichen Geschlechtsorganen – und dazu gehören auch die Klitoris und der Bulbus vestibuli – bisher zu oberflächlich waren. Deshalb haben wir uns intensiv damit auseinandergesetzt und die Lerneinheit zum Bulboklitoralorgan inklusive aller Abbildungen völlig neu konzipiert.
Soweit wir es überblicken, haben wir damit jetzt tatsächlich die ersten Darstellungen der Klitoris und der sie umgebenden Strukturen in der deutschsprachigen Fachliteratur seit mehreren Jahrzehnten, die alle aus funktionell-anatomischer Sicht notwendigen Details zeigen! Das ist ein Meilenstein – nicht nur für die Anatomie. Darauf sind wir sehr stolz!
Diese neu konzipierten Illustrationen bilden die Basis für die neue Lerneinheit, die sehr viel mehr Wissen über Struktur und Funktionsweise des Bulboklitoralorgans vermittelt, als bisher in der Fachliteratur zu finden war – und das betrifft nicht nur Publikationen, mit der sich angehende Mediziner*innen auf das Physikum vorbereiten.
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Woran lag es, dass die bisherigen Lerneinheiten zu den äußeren weiblichen Geschlechtsorganen das Thema Klitoris eher oberflächlich behandelt haben?
Schünke: Die Klitoris zu präparieren ist aufgrund der äußerlich nicht sichtbaren, unter der Haut liegenden Strukturen ausgesprochen schwierig. Anders als beim männlichen Pendant, dem Penis, muss man sich sehr darum bemühen, die relevanten Strukturen zu erkennen. Dazu kommt, dass der überwiegende Teil der Körperspenderinnen für unsere Präparierkurse deutlich über 70 Jahre alt waren. Körper in diesem Alter sind generell schwierig zu präparieren. Bei Frauen dieses Alters ist die Klitoris häufig etwas verkleinert und einige ihrer geschrumpften Strukturen sind durch Fettgewebe ersetzt worden. Es ist wirklich eine Herausforderung für Präparator*innen!
Ich bin der Auffassung, man kann in der Anatomie nur das lehren und lernen, was man sehen kann – oder eben präparieren und damit sichtbar machen kann. Und oft ist das nur das, was wir meinen zu kennen. Speziell in diesem Punkt waren wir lange Zeit nicht kenntnisreich genug. Ich habe über 30 Jahre im Präpariersaal gestanden. Uns war tatsächlich nicht bewusst, wie oberflächlich unser Wissen zu den äußeren weiblichen Geschlechtsorganen war und dass wir gezielt nach spezifischen Strukturen hätten suchen müssen, die in der Literatur bereits beschrieben waren.
Haag-Wackernagel: Ich kann das bestätigen. Aber es ist wirklich schwierig, geeignete Körperspenderinnen zu finden, an denen man diese Strukturen gut herausarbeiten kann. Studierende von verschiedenen deutschsprachigen Universitäten haben mir bestätigt, dass auch bei ihnen keine Präparationen des Bulboklitoralorgans durchgeführt werden. Zudem gibt es nur wenige gute Präparationsanleitungen.
Herr Prof. Schünke, was hat Ihre Aufmerksamkeit dann doch auf die Klitoris gelenkt?
Schünke: Aufmerksam bin ich darauf geworden, als ich in einem Beitrag von Professor Haag-Wackernagel auf das Buch von Di Marino und Lepidi2 gestoßen bin. Mit seinen makroskopischen und histologischen Bildern ist es eine wahre Fundgrube an Abbildungen der äußeren weiblichen Geschlechtsorgane! Mit diesem Wissen können wir im Präpariersaal jetzt ganz anders nach den Strukturen suchen und sie sichtbar machen.
Gleichzeitig haben wir vermehrt Rückmeldungen von unseren Leser*innen bekommen, die im PROMETHEUS detaillierte Darstellungen vermisst haben. Und auch im Präpariersaal wurde das Thema von den Studierenden immer öfter an uns herangetragen. Der Anteil weiblicher Medizinstudierender hat in den letzten 20 Jahren stark zugenommen. Wir hatten zuletzt in Kiel, wo ich gelehrt habe, 80 Prozent Studentinnen. Das hat den Blickwinkel, aus dem wir auf die weibliche Anatomie geschaut haben, natürlich auch noch mal geändert.
Haag-Wackernagel: So ist es auch in Basel. In den letzten fünf bis zehn Jahren ist der Frauenanteil stetig gewachsen. Heute haben wir 70 und mehr Prozent weibliche Studierende an der medizinischen Fakultät. Die Studentinnen fordern eine bessere Aufklärung über ihren eigenen Körper ein. Sie zeigen sich irritiert darüber, dass über den Penis im Detail gesprochen wird und über die Klitoris gar nicht oder nur so en passant – und da haben sie ja völlig recht – dass das ein Unding ist.
Herr Prof. Haag-Wackernagel, Sie gelten als führender Wissenschaftler zum Thema Klitoris. Was haben sie dem bisherigen Kenntnisstand aus wissenschaftlicher Perspektive hinzugefügt?
Haag-Wackernagel: Eigentlich nicht viel Neues. Es gab schon sehr viel Wissen darüber. Es ist nur in Vergessenheit geraten und aus der Fachliteratur verschwunden. Im Rahmen einer Literaturrecherche habe ich es sozusagen wiederentdeckt.
Nach meiner Emeritierung 2017 habe ich bei der Vorbereitung eines Workshops über die weibliche Sexualität festgestellt, dass das Bulboklitoralorgan in den herkömmlichen Lehrbüchern nur ungenügend dargestellt wird. Zudem fiel mir auf, dass die verfügbaren Modelle der Klitoris nicht der anatomischen Realität entsprachen. In der älteren Fachliteratur aus dem 19. Jahrhundert und bis in die 1930er-Jahre werden die äußeren weiblichen Genitalien noch sehr viel detaillierter dargestellt3. Und auch über die spezifische Funktionsweise war schon viel mehr bekannt als heute. Bereits im 19. Jahrhundert wurden zum Beispiel die Genitalkörperchen von Ludwig Fick4 entdeckt. Diese sensorischen Nervenendigungen sind für die Generierung der Lust und der Auslösung des Orgasmus verantwortlich. Trotzdem werden sie in aktuellen Lehrbüchern nicht mehr oder nur kurz erwähnt, ohne auf ihre Bedeutung hinzuweisen. Genitalkörperchen findet man vor allem in der Klitoris – nicht jedoch in der Vagina, von der seit dem 19. Jahrhundert bekannt ist, dass sie nur sehr gering sensorisch innerviert ist. Das hat mich aufmerken lassen und ich bin dem nachgegangen.
Über dieses vergessene Wissen zur Klitoris und insbesondere auch zum weiblichen Lustempfinden, das eben wesentlich mit der Klitoris verknüpft ist, möchte ich in der Breite aufklären. Dafür habe ich verschiedene anatomisch korrekte 3D-Modelle des Bulboklitoralorgans und der umgebenden Strukturen entwickelt, anhand derer wir die Funktionsweise dieses Organkomplexes sehr viel besser als bisher erklären und verständlich machen können.
Schünke: Das ist ja das Unglaubliche. Es war schon so viel bekannt. Aber wir haben es viel zu lange nicht zur Kenntnis genommen oder zumindest nicht in der Tiefe durchdrungen – sei es aus Zeitmangel, aus Nachlässigkeit, oder weil das Thema aus den unterschiedlichsten Gründen, wie beispielsweise der gesellschaftlichen Wahrnehmung der weiblichen Sexualität, einfach nicht präsent war. Ich bin ja eigentlich dafür bekannt, in die Tiefe zu gehen. Dass uns dieses profunde Wissen um die äußeren weiblichen Geschlechtsorgane so lange entgangen ist, das müssen wir uns schon vorwerfen lassen.
Wie haben diese Erkenntnisse den Weg in den PROMETHEUS gefunden?
Schünke: Als mir nach der Lektüre erster aktueller Publikationen zum Thema klar wurde, dass wir hier bisher etwas so Wesentliches nicht ausreichend berücksichtigt haben, habe ich sofort Kontakt mit Herrn Professor Haag-Wackernagel aufgenommen. Denn meinen Kollegen Erik Schulte und Udo Schumacher, mit denen ich gemeinsam den PROMETHEUS seit fast 20 Jahren schreibe, und mir wie auch dem Verlag war schnell klar, dass dieses wichtige Wissen schnellstmöglich Eingang in unseren LernAtlas Anatomie finden muss!
Ich kann im PROMETHEUS nur vermitteln, was ich wirklich verstanden und durchdrungen habe und hätte nicht gedacht, dass ich nach 30 Jahren Präparierkurs noch so viel lernen kann. Ich bin sehr dankbar, dass Herr Haag-Wackernagel mich an seinem profunden Wissen hat teilhaben lassen, mir die Funktionsweise des Organs im Detail erklärt hat und immer wieder auf meine zahlreichen Nachfragen eingegangen ist.
Wie können wir uns das zeitlich vorstellen?
Schünke: Im März 2021 habe ich Herrn Haag-Wackernagel angesprochen. Rund neun Monate sind wir dann mit der Idee zur neuen Lerneinheit für den PROMETHEUS schwanger gegangen [schmunzelt] und zum Ende des Jahres konnten wir schließlich die „Geburt“ der ersten detailgetreuen Abbildungen der weiblichen Klitoris feiern, die jetzt ihren Weg in die Neuauflage des PROMETHEUS findet. Sie erscheint Anfang September 2022.
Einen ganz wesentlichen Anteil daran hat Karl Wesker, der bereits seit 1996 an der Erstellung der PROMETHEUS Abbildungen arbeitet.
Herr Wesker, gemeinsam mit Ihrem Kollegen Markus Voll konzipieren und erstellen Sie die Abbildungen für den PROMETHEUS. Dabei arbeiten Sie eng mit den Autoren zusammen.
Wesker: Das ist richtig. Für jede einzelne Zeichnung, die wir für den PROMETHEUS erstellt haben, standen und stehen mein Kollege Markus Voll und ich in überaus engem Austausch mit Herrn Professor Schünke und den anderen beiden Autoren. Zunächst besprechen wir den Sachverhalt oder den Bereich, der dargestellt werden soll. Das ist für uns Zeichner dann so etwas wie eine Privatvorlesung oder eine von Experten geführte Expedition in tiefe Wissensbereiche. Nach diesen ersten Besprechungen gehen wir, je nach Komplexität des Gegenstands, auch selbst noch auf die Suche nach weiteren geeigneten Beschreibungen und Abbildungen, die das Verständnis von der Materialität, der Farbe, der genauen Erscheinung sowie der Lagebeziehungen des Gegenstands umfassender klären können. Am besten ist es natürlich, wenn wir direkten Zugang zu einem Präparat haben, zum Beispiel in einer der guten Schausammlungen oder die Anschauung im Präpariersaal. Was aber in diesem Fall, wie Herr Schünke und Herr Haag-Wackernagel schon erläutert haben, nicht möglich war.
Darüber hinaus finde ich es sehr hilfreich, die Abbildungen anderer Zeichner zu studieren, insbesondere in historischen Atlanten. Zu erkennen, wie sich die Sicht auf das Präparat oder die anatomischen Strukturen im Laufe der Zeit immer wieder ändern, wie die Zeichner die Sachverhalte unterschiedlich interpretieren und auch tradieren, hilft dabei, einen eigenen Weg, einen eigenen Ausdruck zu finden.
Für das Bulboklitoralorgan waren die Literatur- und Bildhinweise und besonders das 3D-Modell der Klitoris von Herrn Haag-Wackernagel mehr als hilfreich. Die Zeichnungen beziehungsweise Kupferstiche von Franz Wagner im Kobelt5 mit ihrer feinen präzisen Strichführung lassen die tiefe Einsicht des Zeichners in das erkennen, was er da abbildet. Das hat mich schon sehr beeindruckt und lässt einen demütig werden.
Wie sind Sie bei der Darstellung des Bulboklitoralorgans vorgegangen?
Wesker: Um die physiologische Beziehung der Klitoris zur Umgebung richtig zu erfassen, musste ich zunächst das weibliche Becken in der Position zeichnen, die möglichst viel vom Organ selbst und seiner Lage offenlegt. Hierbei war es besonders wertvoll, das von Herrn Haag-Wackernagel entwickelte Modell immer wieder bildlich einpassen zu können. Für solche Arbeiten habe ich immer knöcherne Präparate, in diesem Fall ein weibliches Becken, zur Verfügung. Kunststoffmodelle sind hier nicht sehr hilfreich, da ihnen zumeist die feinen Prägungen fehlen, die die anliegenden Strukturen im Knochen hinterlassen.
Die ersten skizzenhaften Zeichnungen werden dann erneut detailliert besprochen. Bei der Klitoris war dieser Austausch besonders intensiv und langwierig. Erst mit der Korrektur und erneutem Skizzieren sowie abermaligen Besprechungen und Überarbeitung bildete sich langsam ein klareres Bild und ein Verständnis, auch von den umgebenden Strukturen. Und wie Herr Schünke schon sagte, man kann nur lehren, was man weiß, so kann man auch nur zeichnen, was man erkennt, begreift oder weiß. Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern, dass wir je an einer Lerneinheit für PROMETHEUS so breit angelegt, so umfassend intensiv und auch ein wenig nervenaufreibend gearbeitet hätten, wie an diesen Lerneinheiten zur Klitoris. Aber es ist auch ein zutiefst befriedigender Prozess, wenn sich die gewonnenen Erkenntnisse dann in vorzeigbaren Ergebnissen niederschlagen.
Was war für Sie besonders herausfordernd?
Wesker: Dreidimensionale Strukturen zweidimensional so darzustellen, dass sie begreifbar werden, setzt voraus, dass ich verstehe, was ich zeichne. Sich aber ein komplexes Organ wie die Klitoris mit den umliegenden physiologischen Strukturen, nur aus den Beschreibungen der Anatomen, einem 3D-Modell oder den zeichnerischen Interpretationen der künstlerischen Kollegen zu erschließen, das war schon eine wirkliche Herausforderung und hat mich manchmal an den Rand meines Könnens gebracht.
Schwierig war aber auch, die Zeichnungen und Fotos zu Vulva-Verstümmelungen sowie Fotos zu den OP-Berichten zu sehen und das Leid der betroffenen Mädchen und Frauen wahrzunehmen6. Das lässt einen beim Zeichnen ja nicht kalt. Wir mussten für die Darstellung der OP-Technik Modelle aus Papier und Leder basteln, um zu verstehen, wie sich die Haut beim wieder Zusammennähen verhält. Da meint man den Schmerz der Frauen zu spüren. Und doch muss man die Anatomie in eine ansehnliche, verständliche Form bringen.
Schünke: Die Qualität der Abbildungen begeistert mich immer wieder. Ohne Herrn Wesker und Herrn Voll, die alles daransetzen, jede einzelne Funktion jeder einzelnen Struktur wirklich zu begreifen und begreifbar zu machen, wäre der PROMETHEUS nicht möglich!
Haag-Wackernagel: Dem kann ich mich nur anschließen. Wie Herr Wesker zum Beispiel die Schleimhaut mit einem Glanz darstellt, ist einfach fantastisch. Diese Details sind sehr wichtig. Die Schleimhäute verschiedener genitaler Strukturen sind hochsensible Sinnesstrukturen. Das gilt vor allem für die Klitoris, den Vaginavorhof und die inneren Vulvalippen. Durch die naturgetreue Darstellung der Schleimhäute von Herrn Wesker wird klar, was Schleimhaut und was normale Haut ist.
Was bedeuten das wiederentdeckte Wissen und die neue Lerneinheit zu den äußeren weiblichen Geschlechtsorganen für angehende Mediziner*innen?
Haag-Wackernagel: Anders als bisher erhalten angehende Mediziner*innen tiefgehende Einblicke in die Strukturen und die Funktionsweise der äußeren weiblichen Genitalien, im Besonderen des Bulboklitoralorgans – auch jenseits der Fortpflanzungsthematik. Sie lernen unter anderem auch, wo und wie weibliches Lustempfinden entsteht – was bisher kein studienrelevantes Thema war.
Tatsächlich können die meisten Frauen nicht alleine durch penil-vaginalen Geschlechtsverkehr zum Orgasmus kommen. Sie benötigen hierfür eine zusätzliche Stimulation ihrer Klitoris.
Das wiederentdeckte Wissen ist zum Beispiel besonders wertvoll bei der Rekonstruktion der weiblichen Genitalien, etwa nach Genitalverstümmelung durch Beschneidung, wie sie in manchen Kulturen bis heute praktiziert wird. Herr Wesker hat sich eben schon darauf bezogen. Professor Dan mon O`Dey am Luisenhospital in Aachen ist hier derzeit einer der führenden Expert*innen. Die genauere anatomische Kenntnis der Klitoris, die wir jetzt haben, kann einen wichtigen Beitrag bei der Wiederherstellung des Organs leisten.
Auch in der Gynäkologie und Geburtshilfe ist das Wissen über das Bulboklitoralorgan wesentlich. Die Klitoris mit ihren Nerven und Gefäßen kann bei der Geburt regelrecht zerrissen werden oder die Vorhofbulben, welche eine starke Blutfüllung aufweisen, können durch den Druck reißen und zu Einblutungen in die äußeren Vulvalippen führen. Was genau da passieren kann, ist vielen Mediziner*innen unklar.
Relevant ist das Wissen auch im Bereich der plastischen Genitalchirurgie, etwa bei der Verkleinerung der höchst sensiblen inneren Vulvalippen, oder auch beim Fettabsaugen im Genitalbereich. Beim Absaugen des Venushügels können die dorsalen Klitorisnerven verletzt werden, weil vielen Operateuren nicht bewusst ist, wie oberflächlich diese für die Lust zentral wichtigen Nerven liegen. Mit den neuen Abbildungen wird das nun klar dargestellt.
Das Wissen um die Beschaffenheit des Organs ist bei den praktizierenden Ärzt*innen oft nicht vorhanden, meist weil die weibliche Lust kein Thema ist.
Wie verbreitet ist dieses „wiederbelebte“ Wissen heute in Fachkreisen?
Haag-Wackernagel: Anatom*innen, Gynäkolog*innen, Geburtshelfende, Neurolog*innen müssen bessere Informationen in Lehrbüchern zur Verfügung gestellt werden. Dabei ist die neue Lerneinheit im PROMETHEUS ein wichtiger Schritt in diese Richtung.
Ich habe in letzter Zeit verschiedene Publikationen über die Anatomie und Physiologie des Bulboklitoralorgans veröffentlicht (zum Beispiel in der Zeitschrift FRAUENARZT) und halte auch regelmäßig Vorträge zur Sexualbiologie von Menschen und Tieren. Letzthin sind zwei Publikationen in der Fachzeitschrift Sexuologie erschienen, in denen ich auf die große Bedeutung der Genitalkörperchen für die weibliche Lust hinweisen und den klinischen Bezug zum Beispiel zu unerwünschten Orgasmen der Frau aufzeigen konnte7. Solche Publikationen sind insofern wichtig, als sie bei vielen interessierten Mediziner*innen ein besseres Verständnis für das Klitoralorgan schaffen können.
Meine Modelle des Bulboklitoralorgans8 sind in der Zwischenzeit auf großes Interesse gestoßen und werden heute in vielen Bereichen verwendet. Vor allem bei der Entwicklung meines letzten Modells, das auch detailliert die Gefäße und Nerven des Bulboklitoralorgans zeigt, konnte ich sehr viel von Herrn Professor Schünke lernen. Die Zusammenarbeit mit ihm war ein äußerst fruchtbarer Prozess, der für beide Seiten ein großer Gewinn war. Die intensive Auseinandersetzung mit den anatomischen Strukturen war ein wichtiger Erkenntnisprozess.
Schünke: Meines Erachtens gehört dieses Modell in alle Präpariersäle. Denn damit wissen die Studierenden, wonach sie suchen müssen und können gezielt diese Strukturen herausarbeiten.
Haag-Wackernagel: Ich bin überzeugt, dass auch die detailgetreuen Abbildungen im LernAtlas PROMETHEUS wesentlich dazu beitragen werden, das wiederentdeckte Wissen in den kommenden Generationen von Mediziner*innen zu verankern. Das wird von den Studierenden eingefordert und darauf müssen sich Lehrende einstellen. Auch wenn es zunächst zusätzliche Aufwände bedeutet – von der Beschaffung geeigneter Körperspender*innen bis zur Aktualisierung des Lehrmaterials9. Es ist wichtig – medizinisch und gesellschaftlich!
Warum das Wissen über das Bulboklitoralorgan in Vergessenheit geraten ist
Warum ist das im 19. Jahrhundert bereits bekannte Wissen zu den äußeren weiblichen Geschlechtsorganen in Vergessenheit geraten?
Haag-Wackernagel: Über die Schwierigkeit, die äußeren weiblichen Geschlechtsorgane zu präparieren und zu erforschen, haben wir schon gesprochen. Trotzdem wurde bereits im 19. Jahrhundert viel erkannt und verstanden.
In früheren Zeiten war die Sterblichkeit bei jüngeren Frauen, vor allem bei Geburten, sehr hoch und die Wissenschaftler – es waren damals ausschließlich Männer – verfügten damals über eine große Anzahl an Leichen. Es gibt ein Beispiel, in der ein Forscher bereits 30 Minuten nach Eintreten des Todes einer jungen Frau Gewebe entnahm und so zeigen konnte, dass feinste Nervenfasern der Genitalkörperchen innerhalb ganz kurzer Zeit postmortale Veränderungen zeigen. Er muss also am Krankenbett auf das Eintreten des Todes gewartet haben, was heute völlig undenkbar wäre. Erfreulicherweise sterben heutzutage jüngere Frauen nur noch selten. Und sie stehen dann auch nicht für die anatomische Forschung zur Verfügung. Deshalb sind die Darstellungen aus früheren Zeiten so wertvoll.
Wissenschaftler entwickelten bereits Verfahren, bei denen sie zum Beispiel Harze oder Quecksilber in die Blutgefäße injizieren und so die Gefäßgewebe der klitoralen Schwellkörper erstmals sichtbar machen konnten. Kobelt10 hielt beispielsweise 1844 fest, dass er gewisse Blutgefäße erst durch die Injektion sehen konnte.
Oder auch in den 1930er Jahren: Der Österreicher Eduard Pernkopf war ein hervorragender Anatom, der unter anderem die Strukturen der Klitoris detailliert herausgearbeitet und auch dargestellt hat11. Pernkopf war bekennender Nationalsozialist und bei vielen der von ihm präparierten Leichen handelte es sich erwiesenermaßen um Mordopfer der Nazis. Bis heute gibt es deshalb erhebliche Vorbehalte, mit seinen anatomischen Abbildungen zu arbeiten, auch wenn diese nach heutigen Maßstäben von hervorragender Qualität sind.
Gibt es neben den heute veränderten Bedingungen für Präparatoren noch andere Gründe?
Haag-Wackernagel: Ja, dass uns heute nicht im selben Maße jüngst verstorbene Körperspenderinnen zur Verfügung stehen, ist meiner Einschätzung nach nicht der entscheidende Grund. Eine wesentliche Rolle hat sicher die schon im 19. Jahrhundert bekannte wissenschaftliche Erkenntnis gespielt, dass die Frau keinen Orgasmus braucht, um schwanger zu werden. Die Gynäkologie ist überwiegend auf die Fortpflanzung ausgerichtet. Und so ist das Wissen über die weibliche Lust und damit die Beschreibung des dafür verantwortlichen Organs wieder weitgehend aus der Fachliteratur verschwunden. In der Zwischenzeit haben neuere Publikationen jedoch gezeigt, dass der weibliche Orgasmus sehr wohl einen fertilitätsfördernden Einfluss hat. Zudem spielt das sexuelle Vergnügen eine wichtige partnerbindende Rolle, was sich wiederum positiv auf das Gedeihen der Nachkommen auswirkt.
Im Weiteren hatte sicher auch die Emanzipation der Frau seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts einen großen Einfluss auf die Unterdrückung der weiblichen Sexualität. Es würde sich lohnen, das mal im Detail zu analysieren. Das hat ja auch sehr viel mit der bis heute in Wissenschaft und Gesellschaft dominierenden männlichen Perspektive zu tun.
In die gleiche Richtung geht auch der Mythos vom vaginalen Orgasmus, der Siegmund Freud zugeschrieben wird. Freud sagt in seiner Transmissionshypothese12, dass es einen unreifen kindlichen und einen reifen vaginalen Orgasmus gibt. Das würde aber bedeuten, dass es der männliche Penis wäre, der alleine zur weiblichen Lust verhelfen könne. Diese Auffassung stammt ursprünglich nicht von Freud, sondern geht auf den dänischen Gynäkologen Rudolph Bergh zurück, welcher Ende des 19. Jahrhunderts die Bedeutung der Klitoris für die weibliche Lust ablehnte. 1906 konnte Worthmann13 dann belegen, dass die Vagina zu schwach sensorisch innerviert ist, um die Erzeugung der weiblichen Lust zu erklären und es die Klitoris sein muss, die dafür verantwortlich ist.
Wann hat sich die Perspektive geändert?
Haag-Wackernagel: Dass die weibliche Lust ab der Mitte des 20. Jahrhunderts dann immer mehr Aufmerksamkeit bekommen hat, ist kein Verdienst der Wissenschaft. Vielmehr ist die Anerkennung der weiblichen Sexualität gesellschaftlich eingefordert worden. In den vergangenen Jahrzehnten gab es viel mehr eine mediale als eine wissenschaftliche Auseinandersetzung damit. Die Wissenschaft war hier nicht Treiber einer gesellschaftlichen Entwicklung, sondern zieht erst jetzt so langsam mit. Erfreulicherweise sind in den letzten Jahren mehrere wichtige Arbeiten über die Funktion der Genitalkörperchen erschienen. Das zeigt, dass das Thema der weiblichen Lust in der Wissenschaft wieder ernst genommen wird.
Welche Resonanz erfahren Sie zu „Ihrem“ Thema?
Haag-Wackernagel: Als ich mit der Entwicklung meiner Klitorismodelle begann, wurde mir klar, dass das Thema immer noch enorm tabuisiert ist. Als Wissenschaftler wird man schnell einmal in die Schmuddelecke gestellt, vor allem als „alter weißer Mann“. Mir wurde von einzelnen Frauen vorgeworfen, dass ein Mann nicht zur weiblichen Lust arbeiten soll, dass das Thema den Frauen gehöre. Ich bin im Gegenteil der Meinung, dass gerade bei den Männern noch ein sehr großer Nachholbedarf bezüglich des Baus und der Funktion der weiblichen Genitalien besteht.
Im Allgemeinen habe ich aber sehr viele positive Rückmeldungen auf meine Arbeit erhalten, die mich motivieren, hier weiterzumachen. Viele Frauen fühlen sich in ihrer Lust missverstanden und können mit ihren Partnern auch nicht darüber reden, weil vielen die Sprache und die Begriffe dazu fehlen. Es gibt wohl kein medizinisches Thema, das so stark in die Privatsphäre des Menschen eingreift wie die Sexualität und wo es noch so viel zu tun gibt.
Das Interview führte Carola Schindler, Thieme Communications
1 Schünke M, Schulte E, Schumacher U, Prometheus LernAtlas der Anatomie. Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Illustrationen von Voll M und Wesker K. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022.
2 Di Marino V & Lepidi H. Anatomic Study of the Clitoris and the Bulbo-Clitoral Organ. Switzerland: Springer International Publishing; 2014.
3 Sehr schöne Darstellungen des Bulboklitoralorgans finden wir bei Regnier De Graaf aus dem Jahr 1672 oder bei Bourgery und Jacob 1839. Bis heute unübertroffen ist das Werk von Georg Ludwig Kobelt "Die männlichen und weibliche Wollust-Organe des Menschen und einiger Säugethiere in anatomisch-physiologischer Beziehung", Freiburg im Breisgau Druck und Verlag von Adolph Emmerling von 1844.
4 Fick Ludwig. Lehrbuch der Anatomie des Menschen. Drittes Heft. Neurologie. E. Splanchnologie. Leipzig: Verlag von Christian Ernst Kollmann; 1844.
5 Kobelt, Georg Ludwig. Die männlichen und weibliche Wollust-Organe des Menschen und einiger Säugethiere in anatomisch-physiologischer Beziehung. Freiburg im Breisgau: Druck und Verlag von Adolph Emmerling; 1844.
6 Für das ebenfalls neue Kapitel „Beschneidungsformen und Vulvarekonstruktion“
7 Haag-Wackernagel, Daniel. Sensorische Nervenendigungen – der Schlüssel zur weiblichen Lust. Sexuologie - Zeitschrift für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft 29 (1-2); 2022.
Wetzel-Richter, Daniela, Haag-Wackernagel, Daniel. Spontane genitale Erregung und unerwünschte Orgasmen der Frau. Sexuologie - Zeitschrift für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft 29 (1-2); 2022.
8 Bei den Modellen war es für mich ein großes Glück, Martin Kessel kennengelernt zu haben. Er hat die Produktion und den Vertrieb übernommen. Das schönste Modell nützt ja nichts, wenn es nicht unter die Leute kommt. KESSEL medintim GmbH, beziehbar unter www.medintim-shop.de/3d-modell-bulboklitoralorgan-nach-prof.-dr.-d.-haag-wackernagel/mo-clit-bulbo Medintim.
9 Viele Universitäten bieten Ihren Studierenden und Lehrenden über die medizinische Wissensdatenbank eRef digital Zugriff auf den PROMETHEUS. Dozent*innen haben die Möglichkeit, die Bilder rechtssicher und ohne weitere Kosten in ihre Lehre zu integrieren.
10 Kobelt, Georg Ludwig. Die männlichen und weibliche Wollust-Organe des Menschen und einiger Säugethiere in anatomisch-physiologischer Beziehung. Freiburg im Breisgau: Druck und Verlag von Adolph Emmerling; 1844.
11 Pernkopf, Eduard. Topographische Anatomie des Menschen. Lehrbuch und Atlas der regionär-stratigraphischen Präparation. II. Band Bauch, Becken und Beckengliedmasse, Erste und Zweite Hälfte. Berlin und Wien: Urban & Schwarzenberg; 1941.
12 Freud, S. Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Leipzig und Wien, Franz Deuticke; 1905.
13 Bergh, R. in Worthmann, F. Beiträge zur Kenntnis der Nervenausbreitung in Clitoris und Vagina. Archiv Für Mikroskopische Anatomie 68(1): 122–136; 1906.