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  • 14.11.2011

Familienfreundlichkeit im Medizinstudium

Strikte Rahmenbedingungen, hohe Anwesenheitspflicht und wenig Raum für individuelle Gestaltungswünsche - das Medizinstudium erscheint wenig verlockend, um nebenbei eine Familie zu gründen. Rund 400 Medizinstudenten in Baden-Württemberg haben den Schritt aber dennoch gewagt. Dank zweier Studien der Universität Ulm, die im Oktober in Stuttgart-Vaihingen vorgestellt wurden, soll sich In Zukunft für studierende Eltern einiges verbessern.

 

Das Land Baden-Württemberg finanziert die beiden Studien, die unter der Federführung der Universität und der Universitätsklinik Ulm noch bis ins Jahr 2011 laufen.
Bildquelle: Ministerium für Wissenschaft, Forschungund Kunst Baden-Württemberg

 

Qualifikation von Frauen dringend erforderlich

Die Fakten sprechen für sich: Der Frauen-Anteil an den Studierenden des Faches Humanmedizin hat die 60 Prozent-Marke bundesweit bereits überschritten. Und auch im eigentlichen Berufsleben sieht die Geschlechterverteilung nicht anders aus: Im Jahr 2009 waren rund 60 Prozent der praktizierenden Ärzteschaft weiblich, Tendenz steigend. Zeitgleich werden Themen wie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf beziehungsweise Aus- und Weiterbildung immer wichtiger.

Universitäten, Krankenhausleitungen und die Politik hinkten diesem Thema jahrelang hinterher. Doch inzwischen finden auch die öffentlichen Vertreter drastische Worte für den aufkommenden Fachkräftemangel. "Es ist eine schiere Notwendigkeit, jetzt etwas zu ändern. Wenn es die Politik nicht schafft, genügend Frauen zu qualifizieren, werden wir in 15 Jahren ein massives Forschungs- und Versorgungsproblem haben", erklärt Klaus Tappeser, Ministerialdirektor im baden-württembergischen Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst. Die Notwendigkeit für Veränderung an sich ist also unstrittig, viel Raum für Widersprüche bietet aber deren Umsetzung - egal ob im Zentrum der Bemühungen Mütter oder Väter stehen.

 

Dissertation: Familienfreundliche Studienorganisation in der medizinischen Ausbildung

Seit dem Jahr 2008 konzentriert sich Dr. Hubert Liebhardt auf die Vereinbarkeit von Studium und Familie. Denn aus seiner langjährigen Erfahrung als Studienbeauftragter für Medizin an der Universität Ulm weiß er, dass dies ein drängendes Problem in der Medizin ist. "Rund vier Prozent der Medizinstudierende in Baden-Württemberg haben mindestens ein Kind - insgesamt etwa 400 Studenten. Gerade das Medizinstudium hat besonders strikte Rahmenbedingungen und macht mit seinem hohen Praxisanteil mit Anwesenheitspflicht vor allem Studierenden mit Kindern zu schaffen."

Gemeinsam mit der Ulmer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie begann er vor zwei Jahren im Rahmen seiner Dissertation "Familienfreundliche Studienorganisation in der medizinischen Ausbildung" zu forschen und machte eine erste Bestandsaufnahme, mit welchen Problemen Medizinstudierende mit Kindern konfrontiert sind. Die Ergebnisse verblüfften selbst Dr. Liebhardt: "Bis zu diesem Zeitpunkt war keinem der Verantwortlichen an den fünf medizinischen Fakultäten in Baden-Württemberg bewusst, dass sie für schwangere Studierende ebenso eine Fürsorgepflicht haben." Im Klartext heißt dies, dass die Dekanate dafür verantwortlich sind, dass Schwangere und stillende Mütter keinen Gefahrstoffen, infektiösem Material oder Strahlenbelastung ausgesetzt sind. "Die Betroffenen von den Lehrveranstaltungen einfach auszuschließen, hilft natürlich nicht weiter", so Dr. Liebhardt. "Man würde damit nur erreichen, dass sich noch weniger Leute in der Fachberatung melden."

 

Dr. Hubert Liebhardt ist das Thema "Vereinbarkeit von Studium und Familie" erstmals im Jahr 2008 im Rahmen seiner Dissertation angegangen. Seit Dezember ist er nicht mehr Studienbeauftragter für Medizin an der Uni Ulm, sondern hat einen eigenen Forschungsbereich, der an die Ulmer Kinder- und Jugendpsychiatrie angegliedert ist.
Bild: A. Kirner

 

Dabei ist das Thema Beratung einer der Kernpunkte, der studierenden Eltern an baden-württembergischen Universitäten sauer aufstößt. Denn entweder fehlt eine fachlich gute Beratung gänzlich, oder die notwendigen Informationen dringen erst gar nicht bis zu den Betroffenen durch, weil die Angebote nicht oder nur schlecht publiziert werden. "Für alle ein sehr unbefriedigender Zustand", weiß Dr. Liebhardt.

Lösungsvorschläge im Rahmen der Gleichbehandlung

Doch von welchen Änderungen würden Studierende mit Kind ganz konkret profitieren? Welche Maßnahmen ließen sich auch im Rahmen der Gleichbehandlung mit den restlichen Studenten umsetzen? Sowohl die Probanden, die von dem Erziehungswissenschaftler Dr. Liebhardt befragt wurden, als auch die Studierenden, die sich bisher an der landesweit geführten Studie "MeduKi - Medizinstudium und Kind" der Universität und des Universitätsklinikums Ulm beteiligt haben, gaben mehrheitlich verschiedene Lösungsvorschläge an.

So sollte es im Bereich der Studienorganisation möglich sein, sich frühzeitig vor Semesterbeginn in einer gesonderten Anmeldung für die anstehenden Kurse eintragen zu können. Denn nur so kann eine zuverlässige Kinderbetreuung organisiert werden.

Zusätzlich wünschen sich studierende Eltern, dass das Kursangebot am Vormittag ausgebaut wird, denn genau dann sind auch die Betreuungsangebote am Vielfältigsten.

Sollte es trotz bester Organisation der Eltern zu Fehlzeiten kommen - zum Beispiel durch Krankheit der Kinder - können die betroffenen Studierenden dies nur durch flexible Ersatz- und Kompensationsleistungen wie E-Learning oder durch großzügigere Fehlzeiten auffangen. Letzteres spielt vor allem auch im Praktischen Jahr eine große Rolle. Gerade für diese Zeit fordert Dr. Liebhardt, der inzwischen Leiter einer Forschungsgruppe an der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Ulm ist, die bestehende 20-Tage-Regel zu überdenken: "Man könnte diese zum Beispiel um zehn Kinderkrankheitstage erweitern."

Aber auch Probleme wie die gebündelten Prüfungswochen oder die Vorgaben des Landesprüfungsamtes, Famulaturen nur im vorlesungsfreien Zeitraum ableisten zu können, müssten überdacht werden.

Bei der fachlichen Beratung ist noch viel zu tun

Auf dem Gebiet der Beratung und Information gibt es für die Universitäten noch einiges zu tun. Zwar sahen sich die Vertreter der einzelnen Studentenwerke in Baden-Württemberg auf der Fachtagung "Familienfreundlichkeit in der medizinischen Aus- und Weiterbildung" bei dem Thema gut aufgestellt und betonten, sie würden neben der Kinderbetreuung auch umfassend auf finanzielle Hilfen und sonstige Probleme eingehen. Doch für Dr. Liebhardt ist klar, dass gerade auf dem Gebiet der fachlichen Beratung, die konkret auf das Medizinstudium eingeht, noch viel zu tun ist. "Zielgerichtet ist ein Verlaufsmonitoring des Studiums, das jedes Semester auf den aktuellen Stand bringt. Alle relevanten Informationen müssen darin eingehen: der individuell erstellte Stundenplan, die geplanten Prüfungen, Zeiten für die Doktorarbeit. Aber auch der persönliche familiäre Hintergrund oder Ressourcen in der Kinderbetreuung. Nur so kann zum Beispiel die Forderung nach einem Teilzeitstudium umgesetzt werden." Zu verstehen sei dies nicht als Kontrolle der Studenten. Viel mehr könnten diese dadurch alle zur Verfügung stehenden Angebote besser nutzen und zielgerichteter studieren. Denn eines kann der Forschungsgruppenleiter aus seiner Erfahrung sagen: "Studierende mit Kind sind sehr gut organisiert und diszipliniert. Ansonsten würden sie die Doppelbelastung nicht schaffen." Um das Ganze in eine offizielle Form zu bringen, könnte zum Beispiel ein Elternpass hilfreich sein. Und wer wäre besser in der Lage, über ein Studium mit Kind zu informieren, als die Eltern selbst? "Diese Ressourcen gilt es zu nutzen, etwa in Form eines Mentorenprogramms", so Dr. Liebhardt.

Verbesserungen zum Teil mit einfachen Mitteln möglich

Auch wenn diese Forderungen eine gründliche Planung der einzelnen Fakultäten voraussetzen, im Bereich der Infrastruktur lassen sich schon mit relativ einfachen Mitteln große Verbesserungen erreichen. Denn Wickeltische oder Aufenthaltsräume für Eltern mit Kind sind Mangelware an baden-württembergischen Universitäten. Und auch geeignete Parkmöglichkeiten fehlen meist, obwohl der Zeitplan von studierenden Eltern in der Regel straff ist und viele auf das Auto angewiesen sind.

Etwas schwieriger lassen sich Forderungen nach einer Kurzzeitbetreuung an der Universität oder ausreichenden Betreuungsplätze in Kindertagesstätten umsetzen. Zum einen, weil dafür ein nicht unbeträchtlicher finanzieller Hintergrund notwendig ist, zum anderen aber auch, weil es im Bereich des Betreuungspersonals ebenso Engpässe gibt, wie Prof. Dieter Bitter-Suhrmann, Präsident des Medizinischen Fakultätentages und der Medizinischen Hochschule Hannover, aus eigener Erfahrung weiß. "Der massive Ausbau der Betreuungsplätze steht an erster Stelle, nur so können unnötige Verlängerungen der ohnehin schon langen Aus- und Weiterbildungsphase vermieden werden. Die Finanzierung muss mit Einfallsreichtum angegangen werden, so können die Universitäten dafür auch Programmpauschalen für Forschungsinfrastruktur verwenden."

Um aber Kinder nicht nur abzustellen, brauche man qualifiziertes pädagogisches Personal, bei diesem werde es in Zukunft Engpässe geben. Auch Rüdiger Strehl, Vorstandsmitglied der Universitätsklinika Deutschland e.V., kann dieser Forderung nur zustimmen: "Die Schlüsselfrage ist die Zahl der Betreuungsplätze. Es sollte niemand darauf warten, dass die Politik die Rechtslage ändert. Ich kann die einzelnen Dekanatsleitungen nur ermutigen, selbst aktiv zu werden."

In Baden-Württemberg hat sich bereits etwas getan: Seit Dezember 2010 essen Kinder von Studierenden bis zum Alter von zehn Jahren in Baden-Württembergs Mensen kostenlos.

Auch in Zukunft wird Dr. Liebhardt weiter an dem Thema Familienfreundlichkeit im Medizinstudium dran bleiben. Eines steht für ihn aber heute schon fest: "Wir werden noch lange über Vereinbarkeitsfragen reden müssen. Der Druck ist so groß, dass sich etwas verändern muss."

Daten auf einen Blick

Seit Jahren ist die Anzahl der Studierenden mit Kind in Deutschland konstant und liegt im Bereich der Humanmedizin bei rund vier Prozent, in anderen Fachbereichen sogar bei mehr als sieben Prozent.

  • In Baden-Württemberg bedeutet dies, dass rund 400 Studenten ihr Medizinstudium mit mindestens einem Kind absolvieren. Rund 70 Prozent davon sind weiblich.
  • Die Studierenden mit Kind sind im Schnitt rund 29 Jahre alt.
  • Für rund 60 Prozent der Eltern ist das Medizinstudium bereits die zweite Ausbildung, die Mehrzahl stammt aus Medizin-nahen Berufen.
  • Mehr als die Hälfte der Kinder sind drei Jahre alt oder jünger und haben damit einen hohen Betreuungsaufwand.
  • Dreiviertel der Kinder kommen während des Medizinstudiums auf die Welt, vor allem im Klinischen Abschnitt oder während des Praktischen Jahres.
  • Zwei Drittel der Kinder waren ganz bewusst im Studium geplant.
  • Die Vorteile werden vor allem in der jungen Elternschaft und der einfacheren Vereinbarkeit von Studium und Familie gesehen.

 

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