LernAtlas der Anatomie
EUR [D] 79,99
Mit Kind wird alles anders - dies gilt für alle angehenden Eltern. Wenn sich der Nachwuchs während eines Medizinstudiums ankündigt, sind allerdings besonders viel Organisationstalent, Nerven und Gelassenheit gefragt. Dass es trotzdem ein guter Weg ist, noch während des Studiums Kinder zu bekommen, steht für viele der studierenden Eltern außer Frage.
Es ist still im Hörsaal. So still rund 300 Medizinstudenten in einer Vorlesung der Klinisch-Pathologischen Konferenz eben sein können. Manche flüstern miteinander, fleißige Hände machen Notizen, allenthalben verlässt einer den Saal. Plötzlich ertönt ein glockenheller Babyschrei. Michael Stempfhubers Tochter Lea ist durch ein Geräusch aufgewacht und macht ihrem Unmut über die Lärmbelästigung Luft. Der Ulmer Medizinstudent schaukelt den Babysafe, schon ist wieder Ruh e.
Für seine Kommilitonen ist das nichts Neues, nur wenige lassen sich von dem kleinen Zwischenfall ablenken. Doch der Dozent, der gerade wortreich über die pulmonalen Auswirkungen einer Tuberkulose berichtet, ist irritiert: "Hat jemand was gesagt? Kann ich helfen?" Nach einigem Kichern springt ein Kommilitone des Vaters ein: "Dem Baby ist nur der Schnuller rausgefallen - Sie können gerne fortfahren."
Dieses Erlebnis hatte Michael Stempfhuber während seines zehnten Semesters. Heute arbeitet der Niederbayer als Assistenzarzt in Passau. Aber wenn er an seine Unizeit mit Kind zurückdenkt, muss er schmunzeln. "Lea kam im November 2008 zur Welt. Da war ich im neunten Semester. Wenn es ging, habe ich sie mit in die Uni genommen. Das klappte immer ganz gut, da sie recht unkompliziert war. Meinen Kommilitonen hat es gefallen, wie meine heutige Frau und ich das damals geregelt haben. Und die meisten Dozenten waren auch verständnisvoll und haben sich gefreut, wenn Lea dabei war. Ansonsten mussten wir uns nicht allzu viel Gedanken um die Kinderbetreuung machen, da meine Frau auf Lehramt studiert hat und zum Zeitpunkt der Geburt schon scheinfrei war. So war immer jemand für Lea da."
Ohnehin findet Michael, dass es studierende Väter etwas leichter haben als ihre Partnerinnen: "Ich hatte die Belastung durch die Geburt und das Wochenbett nicht. Und wenn das Kind gestillt wird, ist es zu Anfang sowieso sehr eng an die Mutter gebunden." Insgesamt habe sich durch die Geburt seiner Tochter aber natürlich schon viel für ihn verändert. "Ich hatte zum Beispiel weniger Zeit zum Lernen. Andererseits wurde ich aber auch entspannter, was mein Verhältnis zu Prüfungen anging." Geholfen hat ihm die "Sonderanmeldung". Damit konnte er seine Kurse vor allen anderen wählen. Ansonsten hat er von Angeboten der Uni, die einem das Studium mit Kind erleichtern sollen, aber nicht viel mitbekommen.
Dr. Hubert Liebhardt beschäftigt sich mit dem Thema "Medizinstudium mit Kind" genauso lange wie Michael Stempfhuber - wenn auch eher aus beruflichem Interesse. In seiner Dissertation zu diesem Thema hat der Erziehungswissenschaftler Medizin studierende Eltern zu der Vereinbarkeit von Studium und Familie befragt. Damit bereitete er den Weg dafür, dass sich an den Unis die Studienbedingungen für diese Klientel langsam verbessern.
Dr. Liebhardt war von manchen seiner Ergebnisse und der darauf basierenden Pilotstudie der Uni und Uniklinik Ulm ziemlich erstaunt: "Rund vier Prozent der Medizinstudenten in Baden-Württemberg haben ein Kind oder mehr - insgesamt müssen sich landesweit also immerhin 400 Studenten mit dieser Situation auseinandersetzen", erklärt der Wissenschaftler. "Trotzdem war bis zum Zeitpunkt unserer Untersuchungen keinem der Verantwortlichen an den fünf medizinischen Fakultäten in Baden-Württemberg bewusst, dass sie für schwangere Studierende ebenso eine Fürsorgepflicht haben wie für ihre Angestellten."
In der Konsequenz bedeutet das, dass die Dekanate ihrer Verantwortung, schwangere und stillende Studentinnen vor Gefahrstoffen, infektiösem Material oder einer Strahlenbelastung zu schützen, nur unzureichend nachkommen konnten. Dr. Liebhardt und seine Kollegen befragten zwar nur Eltern aus Baden-Württemberg. Die von ihm analysierten Problemfelder sind aber an allen 36 medizinischen Fakultäten in Deutschland vorhanden. Das gilt vor allem für die Kinderbetreuung. Denn was für Michael Stempfhuber und seine Frau kein Problem war, ist für viele ein unüberwindbares Hindernis.
Zumindest haben die Verantwortlichen das Problem jetzt erkannt. Prof. Dieter Bitter-Suermann, Präsident des Medizinischen Fakultätentages und der Medizinischen Hochschule Hannover, betont: "Der Ausbau der Betreuungsplätze steht an erster Stelle. Nur so können Verlängerungen der ohnehin schon langen Aus- und Weiterbildungsphase vermieden werden." Rüdiger Strehl, Vorstandsmitglied des Verbandes Universitätsklinika, mahnt, dass er diesbezüglich aber vor allem die Hochschulen selbst in der Pflicht sieht: "Es sollte niemand darauf warten, dass die Politik die Rechtslage ändert. Ich kann die Dekanatsleitungen nur ermutigen, selbst bei diesem Thema aktiv zu werden."
Probleme mit der Suche nach einem Platz in der Kindertagesstätte kennt auch Julia Rieger. Die Studentin aus Ulm steckt mitten in den Vorbereitungen zum Staatsexamen. Tochter Kyra ist sieben Jahre alt, und wenn ihre Mutter wegen dem Examen gerade weniger Zeit für sie hat, geht das für die Erstklässlerin schon in Ordnung. "Kyra macht das alles gut mit. Aber sie war es von Anfang auch nichts anders gewohnt." Im Jahr 2004 hat die heute 27-jährige Julia Abitur gemacht, und anstatt die weite Welt zu erobern, bekam sie erst einmal ein Kind - um dann neun Monate später das Medizinstudium zu beginnen.
"Anfangs war das schon ein komisches Gefühl. Mit Kind gehört man nicht wirklich zu den klassischen Studenten, aber zu den Müttern gehört man eben auch nicht so recht", erinnert sie sich. Doch Julia ging ihren Weg und absolvierte ihr Studium in Regelstudienzeit. "Ich bin in so gut wie jede Vorlesung gegangen und hab dann lieber am Lernen zu Hause gespart", erzählt sie lachend. "Für alles reicht die Zeit dann halt doch nicht." Bevor Kyra mit zweieinhalb in den städtischen Kindergarten kam, war die Betreuung immer eine Organisationsfrage. "Die Kita der Uni ist viel zu klein. Darauf braucht man nicht zu hoffen."
Also musste Julia die Kinderbetreuung mit ihrem Freund, der Rettungsassistent ist und im Schichtdienst arbeitet, abstimmen. Sie tüftelten an Stundenplänen, stimmten Schichtpläne auf Blockpraktika ab. Und wenn es gar nicht anders ging, waren Julias Eltern zur Stelle und passten auf Kyra auf. Trotzdem machten ihr Pflichttermine immer wieder Probleme. "Kurse am Abend waren für mich oft schwierig", erzählt die angehende Ärztin und regt an: "Sicher würde es viel bringen, wenn es für studierende Eltern möglich wäre, ihre Kurse während der üblichen Öffnungszeiten der Kitas zu absolvieren."
Ein weiterer Garant dafür, dass Eltern erfolgreich studieren können, ist eine effektive Beratung. Auch diesen Bedarf haben viele medizinische Hochschulen mittlerweile erkannt - ohne dass dies den Infofluss bislang deutlich verbessert hätte. Die "Netzwerkanalyse der beratenden Stellen zu Studium und Familie" zeigt am Beispiel der Uni Ulm anschaulich, wie schwierig es für Studenten trotz aller Bemühungen ist, an die richtigen Informationen zu kommen. Oft gebe es viele unterschiedliche Beratungsstellen, die nur schlecht vernetzt seien, erklärt Johanna Niehues, Mitautorin der Analyse: "In Ulm gibt es keinen Erstansprechpartner für Schlüsselthemen. So werden studierende Eltern mit dem gleichen Anliegen an verschiedene Beratungsstellen weitervermittelt."
Warum nehmen Studenten trotz solcher struktureller Widrigkeiten die Herausforderung "Studieren mit Kind" an? Von den meisten Eltern, die Dr. Liebhardt für seine Studie befragt hat, bekam er als Antwort auf diese Frage, dass Beruf und Familie ja noch viel schwieriger zu vereinbaren seien. "Und damit haben sie wahrscheinlich gar nicht so Unrecht", erklärt der Wissenschaftler. Und sicher ist es auch volkswirtschaftlich sinnvoll, wenn junge Ärzte beim Berufseinstieg den Einstieg in die Familienphase schon hinter sich haben. Wenn die Politik diesen Trend unterstützen möchte, sollte sie allerdings auch Sorge dafür tragen, dass Lehr- und Stundenpläne flexibler gestaltet werden. Das ist keine einfache Aufgabe in einem Studium, das sich bisher eher durch strikte Rahmenbedingungen und Anwesenheitspflichten auszeichnete.
Dr. Liebhardt nennt trotzdem Vorschläge: "Studienleistungen müssten im Sinne eines echten Teilzeitstudiums teilbar sein", fordert er. "Und auch die Regelung von Fehlzeiten sollte gerade im PJ für Eltern großzügiger gehandhabt werden und zum Beispiel um zehn Kinderkrankheitstage aufgestockt werden. Das ist im Berufsleben auch nicht anders üblich. Verpasst ein Student ein Seminar, weil er sein Kind betreuen muss, könnte man das mit flexiblen Ersatzleistungen wie E-Learning auffangen." Grundvoraussetzung sei aber eine individuelle Betreuung der Studenten durch das Studiendekanat im Sinne eines Studienmonitorings, in dem neben den Studienleistungen auch die persönliche Lebenssituation der Studierenden berücksichtigt werde. "Studierende mit Kindern sind sehr gut organisiert und diszipliniert. Diese Ressourcen gilt es zu nutzen und zu fördern."
Auch Paola Zahn* hat diese Ressourcen. Deswegen plant die 28-Jährige, die im dritten Semester an der Medizinischen Hochschule in Hannover studiert, ihre Familienphase jetzt ganz bewusst. "Mein Mann und ich sind seit zwei Jahren verheiratet. Einerseits möchte ich mit der Familienplanung nicht warten, bis ich fertig studiert habe. Denn dann geht es mit der Weiterbildung weiter. Andererseits möchte ich es auf jeden Fall vermeiden, dass sich mein Studium ewig in die Länge zieht." Eine Zwickmühle, in der sich vor allem die Studenten befinden, die vor der Medizin schon eine andere Ausbildung absolviert haben.
Wie eben auch Paola Zahn, die gelernte Bankkauffrau ist. "Man kommt immer wieder auf den gleichen Punkt zurück: Wann ist der beste Zeitpunkt in der Medizin, ein Kind zu bekommen?" Die junge Frau möchte nichts dem Zufall überlassen und hat sich mit ihrem Mann ausgiebig bei den Beratungsstellen der Medizinischen Hochschule Hannover informiert: "Das Angebot ist bei uns ganz gut und reicht von Kitaplätzen, Elterntreff und Stillräumen bis zur Notfallbetreuung. Besonders hilfreich war für mich aber vor allem das Gespräch mit Studenten, die bereits Kinder haben." Daher weiß Paola auch, dass das dritte Studienjahr für die Familienplanung relativ günstig ist. "In dieser Phase kann man Vorlesungen und Kurse flexibler wählen, und es gibt nicht so viele Pflichtveranstaltungen. Auch wenn nachher sowieso alles anders kommt, möchte ich wenigstens die Gewissheit haben, dass ich mich gut auf die Situation vorbereitet habe."
Dass mit Kindern alles anders wird - das können die meisten Eltern nur bestätigen. Lohnt es sich, dieses Wagnis schon im Studium einzugehen? Julia Rieger überlegt eine Weile und meint dann: "Man weiß immer erst hinterher, was besser gewesen wäre. Den richtigen Zeitpunkt fürs Kinderkriegen gibt es sowieso nicht. Es kommt darauf an, was man daraus macht. Aber bei uns ist es ganz gut gelaufen, auch wenn ein bisschen mehr Akzeptanz für unsere Situation von verschiedenen offiziellen Stellen vieles einfacher gemacht hätte." Und wie sieht Michael Stempfhuber seine Entscheidung, schon im Studium eine Familie gegründet zu haben? "Bereut habe ich diesen Schritt nie", erklärt der Assistenzarzt. "Eher im Gegenteil: Es war die beste Entscheidung, die ich jemals getroffen habe. Heute im Arbeitsalltag sehe ich meine Tochter ja kaum noch."
Stipendium für Studenten mit Kind
http://www.mawista.com/stipendium/
Dies ist der Top-Artikel aus der Via medici 1.12. Als Abonnent von Via medici kannst du alle Artikel dieser Ausgabe bei Thieme E-Journals lesen.