• Interview
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  • Victoria Geier
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  • 18.01.2008

Wenn Prüfungsangst lähmt

Lernstress, Prüfungsangst, Heimweh und soziale Ängste. Dies ist nur eine kleine Auswahl der Faktoren, die nicht nur Medizinstudenten in psychische Krisen führen können. Victoria Geier sprach über dieses Thema mit Sigi Oesterreich, Psychologin der Psychologisch-Psychotherapeutischen Beratungsstelle des Studentenwerks in Berlin.

 

Grafik: Thomas Koch - Thieme

 

> Wenn Sie den heutigen Tag in der psychologischen Beratungsstelle des Studentenwerks Berlin Revue passieren lassen: Mit welchen Problemen kamen die Studenten zu Ihnen?

Der heutige Tag spiegelt das Verhältnis der verschiedenen Probleme wider, mit denen wir hier zu tun haben. Da wir eine Beratungsstelle für Studenten sind, kommen "typische" Studienprobleme wie Prüfungsangst, Arbeitsstörungen, Schreibstörungen, Redeangst, Schwierigkeiten beim Zeitmanagement und Stresssymptome am häufigsten vor. Das ist keinesfalls selbstverständlich. Früher machten spezifische Studienprobleme nur ca. 30 % der studentischen Probleme aus, neben Depressionen, Selbstwertproblemen und Problemen mit dem Partner. Mittlerweile, und dazu haben die neuen Bachelor-Regelungen sicherlich einen großen Teil beigetragen, stehen Studienprobleme mit ca. 80 % an erster Stelle.

> Was unterscheidet Studierende von nicht studierenden Gleichaltrigen?

Gesellschaftlich war es ja lange Zeit so, dass das "Studentenleben" bei vielen Nicht-Studierenden Neid erweckte. Die Allgemeinheit war der Meinung, Studenten hätten viel Freizeit und ließen es sich den ganzen Tag gut gehen. Tatsächlich ist die Studienzeit aber eine anstrengende, eher krisenanfällige Zeit. Ein Hauptkonflikt besteht darin, dass Studierende vom Lebensalter längst erwachsen sind, ihre Lebensbedingungen jedoch durch finanzielle Engpässe, instabile Partnerschaften und ständiges Lernen nicht einem normalen Erwachsenenleben entsprechen. Das permanente Lernen und die zahlreichen Prüfungen, gerade im Medizinstudium, können dabei sehr verunsichernd wirken.

> Wie groß ist der Anteil an Medizinstudierenden in Ihrer Beratungsstelle?

Konkrete Zahlen liegen mir nicht vor, aber ich habe den Eindruck, dass sich die Medizinergruppe prozentual nicht besonders hervorhebt. Allerdings lässt sich schon sagen, dass Medizinstudenten vor allem mit Studienproblemen kommen. Oft fühlen sie sich überfordert. Sie leiden oft unter Schlaflosigkeit, Konzentrationsstörungen und depressiven Verstimmungen.

> Ist psychologische Hilfe unter Studenten ein Tabuthema?

Früher war es durchaus ein Tabuthema, wenn man psychologische Hilfe in Anspruch genommen hat; die Betroffenen haben es eher geheim gehalten. Meinem Eindruck nach hat sich das jedoch glücklicherweise geändert. Es kommen immer häufiger Studenten zu uns, die über Freunde von unserem Beratungsangebot gehört haben. Förderlich ist sicherlich auch, dass wir durch unsere jetzige Lage auf dem TU-Campus für Studenten präsenter und einfacher zu erreichen sind.

> Wie sieht Ihre Hilfe konkret aus?

Kommt ein Student zum ersten Mal zu uns, dann klären wir in einer Eingangsberatung das aktuelle Problem. Daraufhin wird besprochen, ob eine Anschlusstherapie in Form einer Einzelberatung oder einer Einzel- bzw. Gruppenpsychotherapie sinnvoll, notwendig und erwünscht ist. Gerne empfehlen wir unseren Studenten eine Teilnahme an unseren themenzentrierten Gruppen. In diesen lernen die betroffenen Studenten in jeweils acht bis zwölf Terminen, wie sie mit Prüfungsangst, Redeangst, Schreibproblemen, sozialen Ängsten oder Kontaktproblemen umgehen können. Schon die Erfahrung, dass andere Menschen die gleichen Schwierigkeiten haben, kann sehr entlastend wirken.

> Wie gehen Sie mit jemandem um, der drei Tage vor einer wichtigen Prüfung völlig aufgelöst und von Panikattacken und Schlafstörungen geplagt zu Ihnen kommt?

Das wäre ein Beispiel einer akuten Krisenintervention. Die erste Frage, die ich mit diesem Studenten kläre, ist die Frage nach der Prüfungsvorbereitung: Macht es Sinn, an der Prüfung in drei Tagen teilzunehmen oder wäre es besser, die Prüfung zu verschieben? Möchte oder muss der Student die Prüfung wahrnehmen, dann kann es sehr hilfreich sein, die Prüfungssituation in einer ruhigen Atmosphäre durchzusprechen. Ist es eine Einzel- oder eine Gruppenprüfung? Kennt der Prüfling den Professor, hat dieser Lieblingsfragen? Wichtig ist, Ängste oder überzogene negative Phantasien abzubauen und sich auf den realen Gehalt der Prüfung zu konzentrieren.

> Nehmen wir an, dieser Student käme nun schon ein halbes Jahr vor der anstehenden Prüfung zu Ihnen und bäte um Hilfe. Was könnten Sie ihm anbieten?

In diesem Fall hätte der Betroffene genügend Zeit, um nach der Eingangsberatung zum Beispiel an einer themenzentrierten Gruppe teilzunehmen. Obwohl die in der Gruppe simulierten Prüfungssituationen nicht echt sind, stellt sich doch bei vielen die gleiche Angst und Aufgeregtheit ein. Im geschützten Rahmen der Gruppe kann nun nach Lösungswegen aus der Angst gesucht werden. Fußen die Prüfungsprobleme des Studenten jedoch auf einem allgemein zu geringen Selbstwertgefühl oder auf Autoritätsängsten, so könnte man diese Probleme in einer weiteren Psychotherapie nach der Prüfung angehen.

> Was raten Sie den Betroffenen für den Fall eines Blackouts?

Ich rate meinen Klienten, dies dem Prüfer mitzuteilen, da dieser sonst annimmt, dass der Prüfling die Antwort nicht kennt. Schon die Aussage "Ich habe jetzt gerade einen Blackout, ich muss mich erstmal sammeln", oder auch die Bitte, einen Schluck Wasser trinken zu dürfen, kann dazu führen, dass man seinen Faden wieder findet. Ich habe noch nie gehört, dass Prüfer auf solche Ausfälle unwillig reagieren, die meisten haben Verständnis für den Prüfling.

> Ein weiterer hypothetischer Fall: Ein Student ist durch eine Prüfung gefallen und weiß nun keinen Ausweg aus seiner Situation. Wie gehen Sie mit ihm um?

Wichtig ist zunächst die Analyse. Gemeinsam mit dem Studenten schaue ich mir an, woran er gescheitert ist. Lag es an der Vorbereitung, hat er vielleicht zu wenig oder gar zu viel, aber zu chaotisch gelernt? Hatte er einfach Pech mit den Fragen? Und im Falle einer Gruppenprüfung wie beispielsweise bei Ihrem Physikum: Waren die anderen vielleicht derart gut, dass der Student deswegen schlechter dastand? Ganz bedeutend ist auch die Beziehung zum Prüfer. Bestand während der Prüfung eine aversive Stimmung?

> Was folgt der Ursachenanalyse?

Nach der Ursachenanalyse würde ich mit dem Studenten die Studiensituation klären. In welchem Zusammenhang stand die Prüfung, wie wichtig war sie? Hat der Student die Möglichkeit, die Prüfung zu wiederholen, oder war es der letzte Versuch? Darf der Student noch einmal antreten, so ist es wichtig, je nach Ursache für das Misslingen der Prüfung die richtigen Maßnahmen zu ergreifen, wie zum Beispiel mit dem Lernen frühzeitig zu beginnen oder in der Gruppe zu lernen, das Gelernte zu verbalisieren oder eine Prüfungsangst-Gruppe zu besuchen. Insgesamt therapieren wir in dieser Phase nicht aufdeckend und konfrontierend, sondern eher unterstützend. In ganz dramatischen Fällen von akuter Suizidalität, was glücklicherweise sehr selten vorkommt, überlegen wir gemeinsam im Rahmen einer Krisenintervention, welche weiteren Maßnahmen notwendig sind, zum Beispiel die Aufnahme auf einer Krisenstation.

> Was unternehmen Sie, wenn der Student schon mehrmals durch eine Prüfung gefallen ist?

Kann oder möchte der Student sein Studium nicht fortsetzen, dann schauen wir gemeinsam nach Alternativen. So gibt es zum Beispiel für Medizinstudenten nach dem Physikum die Möglichkeit, einen Masterstudiengang in Gesundheitsmanagement zu absolvieren. Vielleicht möchte sich der Student aber auch gänzlich umorientieren. In diesem Fall raten wir ihm, die Studienberatung in Anspruch zu nehmen.

> Gibt es in der Beratungsstelle lange Wartezeiten?

Ein Erstgespräch können wir immer innerhalb von 14 Tagen anbieten. Für akute Krisensituationen haben wir außerdem jeden Tag eine bis zwei Stunden reserviert, sodass wir einem Studenten in einem solchen Fall sofort helfen können.

> Wo sind die Grenzen der psychologischen Beratung des Studentenwerks?

Suchtprobleme können wir hier nicht behandeln, da diese eine spezielle Therapie erfordern. Wir haben jedoch gute Kontakte zu diversen Drogenberatungsstellen in Berlin und verweisen unsere Klienten in solchen Fällen nach außen. Ebenso verweisen wir an niedergelassene Therapeuten, wenn sich abzeichnet, dass eine längere, intensivere Therapie nötig sein wird. Diese würde dann von der Krankenkasse finanziert. Alles was sich in der psychologischen Beratung des Studentenwerks abspielt, ist übrigens kostenlos. Wir werden über den Sozialbeitrag finanziert, den Studenten für das Studentenwerk bezahlen.

> Ist der Andrang in Ihrer Beratungsstelle groß?

Oh ja, vor allem in den letzten Jahren haben wir eine deutliche Zunahme an Klienten zu verzeichnen. Beispielsweise kamen im Jahr 2006 ca. 1.300 Studenten, die unsere Hilfe erstmals gesucht haben. Hinzu kommen all jene, die bereits in einem Therapieprogramm sind. Gerade die Monate Oktober, November und Dezember sind in der Regel ziemlich belegt. Wir sind als Studentenwerk in Berlin für vier Universitäten und 15 Fachhochschulen zuständig. Interessanterweise kommen heute immer mehr Studienanfänger, wohingegen früher die Studenten erst gegen Ende des Studiums Hilfe suchten.

> Haben Sie einen allgemeingültigen Ratschlag für Studierende?

Allgemein lässt sich sagen, dass es für jeden Studenten gut ist, nicht "einsam" zu studieren. Der Austausch über Prüfungsinhalte und Professoren ist wichtig, aber auch der gemeinsame Kaffee nach der Vorlesung. Es ist schon mehrfach nachgewiesen worden, dass gute soziale Kontakte erheblich zum Studiumserfolg beitragen.

> Frau Oesterreich, welche persönliche Motivation haben Sie für diese Arbeit?

Ich arbeite schon seit zwanzig Jahren hier, und meine Lebens- und Berufserfahrung kommt mir bei meiner Beschäftigung sehr zugute. Die Arbeit macht mir großen Spaß und ich empfinde es als befriedigend, jungen Menschen bei ihrer Lebensgestaltung zu helfen und sie dabei zu unterstützen, die richtigen Weichen zu stellen. Besonders erfüllend ist es, wenn ich nach abgeschlossener Therapie Rückmeldung von Studenten erhalte, die es geschafft haben, ihr Leben positiv weiterzuentwickeln.

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