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  • Thang Le
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  • 11.08.2020

Der Präparierkurs: Wenn Leichen fürs Leben lehren

Der Präparierkurs ist berühmt berüchtigt. Und kein Medizinstudierender kommt um ihn herum. Thang erzählt, wie er das Präppen erlebt hat.

Fett zupfen, Muskeln mobilisieren, Strukturen freilegen. Die mühsame Arbeit im Präpariersaal soll ein tiefgehendes Verständnis vom komplexen Aufbau des menschlichen Körpers ermöglichen, anatomische Zusammenhänge im wahrsten Sinne des Wortes verbildlichen. Der Präparierkurs lehrt weitaus mehr, als jedes Anatomiebuch es je könnte.


Wer Medizin studiert, muss Leichen aufschneiden. Und tatsächlich werdet ihr meist schon im ersten Semester praktisch Hand anlegen dürfen. In Marburg z.B. ist der anatomische Präparierkurs in insgesamt drei große Häppchen aufgeteilt, die wiederum auf die vorklinischen Semester verteilt sind: So erwarten einen im ersten Semester die oberen und unteren Extremitäten, im dritten Semester der Kopf-Hals-Rumpf-Bereich und im vierten Semester Neuroanatomie.


Rote Adern, blaue Venen und gelbe Nerven: ein Blick auf die Abbildungen medizinischer Lehrbücher hilft, sich die anatomischen Strukturen besser vorzustellen und voneinander abgrenzen zu können. Dass Muskelsehnen, Nervenstränge und Blutgefäße am Körperspender nur mit größter Mühe voneinander zu unterscheiden sind, wird einem allerspätestens dann bewusst, wenn der Tischdozent am offen präparierten Bein steht und fragend auf die freigelegte Struktur zeigt.


Im Präparierkurs lernt man zudem durch das eigene Sehen, Fühlen und Anfassen der Strukturen anatomische Normabweichungen und Besonderheiten kennen. Die in der medizinischen Literatur postulierte Idee einer idealen Durchschnittsanatomie des Menschen ist an sich nicht haltbar. Nicht zuletzt hat sich in den letzten Jahren der Fachbereich der Gendermedizin intensiv für geschlechtsspezifische Medizin eingesetzt, also für die besondere Beachtung biologischer Unterschiede zwischen Mann und Frau. Zumal die meisten medizinischen Lehrbücher hauptsächlich die Anatomie des Mannes abbilden. Große interindividuelle Unterschiede zeigen sich allerdings auch innerhalb eines Geschlechts: Ein Blick in die menschengefüllte Innenstadt reicht, um diese Hypothese zu bestätigen –  dafür muss man kein Medizinstudium absolvieren.


Doch wie genau äußert sich denn nun diese Diskrepanz zwischen didaktischen Lehrabbildungen und praktischer Realität? Der Nervus ischiadicus beispielsweise, seinerseits aus Lehrbüchern bekannt als der stärkste und dickste periphere Nerv unseres Körpers, sah an einigen Körperspendern eher aus wie ein lang geratener, dünner Seitenast eines wichtigen Nervs. Der Musculus piriformis (lat. für „birnenförmiger Muskel“) erinnerte teilweise überhaupt nicht an eine perfekte Birnenform wie auf den Lehrabbildungen im Atlas. Das Präparieren lehrt, dass der menschliche Körper stets vor dem Hintergrund möglicher evolutionsbiologischer Variationen betrachtet werden sollte. Und so kitschig das auch klingen mag: rein anatomisch gesehen ist also wirklicher jeder von uns ein für sich einzigartiges Bauwerk.


Abgesehen von diesem zentralen, didaktischen Aspekt zwingt der Präparierkurs einen durch die direkte Auseinandersetzung und Konfrontation mit einem Toten zu einer ethisch-sozialen Selbstreflexion. Denn auf den ersten Blick erscheint der Körperspender durch die mühsamen Konservierungsprozesse weniger wie ein Mensch, mehr wie ein Objekt: blassgelbe Haut, unbewegliche steife Gelenke, komplette Regungslosigkeit. Doch hinter diesem verstorbenen Körperspender liegt ein Mensch mit seiner eigenen Biografie, seiner eigenen Geschichte. Mit Familie und Freunden. Der Präparierkurs bedingt den direkten Kontakt mit einem toten Menschen – und nur wenn sowohl eine professionell-rationale als auch eine menschlich-empathische Haltung und Einstellung gegenüber dem Toten gefunden wird, kann das Präparieren hemmungslos gemeistert werden.

Erst zum Semesterende, nachdem der Körperspender noch weniger wie ein Mensch und noch mehr wie ein Objekt aussah, nachdem die vielen Wochen voller Stress und Disziplin endlich ein Ende fanden, wird einem die große Dankbarkeit und der unendliche Respekt gegenüber des Körperspenders bewusst. Das Semester war geprägt von mühsamem Fettzupfen, stumpfem Auswendiglernen und ständigem Rotieren zwischen den Fächern des ersten Semesters, die schon alle schadenfreudig darauf warteten, endlich gelernt zu werden. Aus diesem Grund wird einem erst retrospektiv so richtig klar, dass es sich bei den Körperspendern um lebendige Menschen handelte, dass echtes Blut durch die Arterien und Venen pulsierte, getrieben von lebendigen Herzschlägen. Diese Menschen haben sich allesamt zu Lebzeiten dazu bereit erklärt, ihren Körper der medizinischen Wissenschaft und Lehre zur Verfügung zu stellen und damit angehenden ÄrztInnen eine hochqualifizierte Ausbildung zu ermöglichen.


Jetzt, nachdem ich diese Zeilen verfasst habe, sitzt mir ein wenig das schlechte Gewissen im Nacken: wochenlang habe ich mein Skalpell an den Körperspender gelegt, Fettgewebe herausgezupft und Muskelfasern freigelegt. Dabei weiß ich nicht einmal, wie die Person heißt, die mir diese großartige Möglichkeit gegeben hat, die menschliche Anatomie eben nicht nur aus Büchern oder an Bildschirmen zu lernen.
Umso mehr freue ich mich nun auf das anstehende dritte Semester, denn dann heißt es im Präparierkurs Klappe, die zweite. Dieses Mal mit einer bewussteren und reflektierteren Einstellung. Und obwohl ich nicht einmal den Namen meines Körperspenders weiß, hat er mich jeher zum Nachdenken gebracht. Zum Nachdenken, ob ich nicht eines Tages auch meinen Körper der medizinischen Wissenschaft und Lehre zur Verfügung stellen würde, damit irgendwann ein anderer Medizinstudent mit Skalpell und Pinzette praktisch arbeiten kann und eben nicht nur stundenlang in sein Buch glotzt. Wer weiß?

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