- Bericht
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- Sofia Doubrovinskaia
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- 13.01.2015
Dornröschen
Wir mussten uns durch Abitur und Aufnahmeprüfung zu ihr hindurchkämpfen. Manche verbrachten Jahre als Krankenschwester, Pfleger oder Rettungsassistent, um endlich bei ihr zu sein. Jetzt ist es aber soweit. Die letzten Hürden sind genommen und wir stehen vor ihr: Dornröschen
Nur noch ein Leinentuch trennt uns von ihr. 26 Augen sind auf sie in Spannung gerichtet, als es langsam gehoben wird. Ihren Körper preisgibt. Ein süßlich-modriger Geruch uns in die Nasen steigt.
Wir werden sie nicht wiedererwecken können, schließlich sind wir nur Medizinstudenten und keine Prinzen. Und für Disneyfilme ist der Anblick wohl auch nicht geeignet. Und außerdem: wer möchte schon nackt auf einem Stahltisch aufwachen?
Ist das nun aber die Moral von der Geschichte? Sind wir kaltblütig von der medizinischen Realität eingeholt worden, die aus rohem Fleisch und Knochen besteht, die mit den Abbildungen in siffigen Anatomieatlanten im Präparationssaal abgeglichen werden? Sind wir aus Märchen endgültig herausgewachsen?
Ich erinnere mich an die Worte Antoine de Saint Exuperys, als ich den Saal betrete: „[...] Und ich habe entdeckt, dass sie einem Manne gleichen, der einen Leichnam zerstückelt. Das Leben, spricht er, zeige ich euch in aller Klarheit; es ist nur ein Gemisch aus Blut, Knochen und Eingeweiden. Während doch das Leben jenes Licht der Augen ist, das sich nicht aus ihrer Asche ablesen lässt.“
Ich fürchte, zu diesem Mann zu werden. Beim Päparieren werden wir weder Gedanken, noch Erinnerungen freilegen können. Keine Apfelkuchenrezepte, kein Gefühl von Sand zwischen den Zehen und nicht das Herzklopfen beim ersten Kuss werden wir mit der Pinzette in die Emailleschüsselchen fallen lassen können.
Und dennoch hält unser Dornröschen Geschichten für uns bereit.
Doch bevor wir die Geschichten lesen können, müssen wir Lesen lernen. Wir sind wie Kinder an unserem ersten Schultag und der Körper unser Alphabet. Buchstaben, ohne Zusammenhang und ohne Sinn. Bis wir die Anatomie zu lesen lernen. Langsam fügen sich Buchstaben zu Silben zusammen und wir verstehen, wie Knochen, Muskeln und Organe gebaut sind. Langsam fügen sich Silben zu Wörtern zusammen und wir lernen, wie Muskeln verlaufen und wo Organe liegen. Langsam fügen sich Wörter zu Sätzen zusammen und wir verstehen, wie Muskeln und Organe kommunizieren und interagieren. Und schließlich fügen sich die Sätze zu einer Geschichte zusammen und wir verstehen, wie unser Körper jedem Einzelnen von uns das Leben ermöglicht. Das ist wohl die Moral dieser Geschichte.
Mit unserem Dornröschen verbringen wir jede Woche sechs Stunden, drei Monate lang. Und wer meint, es sei ein intimer Moment einen Menschen nackt zu sehen, hat noch keinen Menschen von Innen erblickt.
Die Geschichte unseres Dornröschens war nicht nach ihrem Tod vorbei. Obgleich sie die Monate nach ihrem Tod nicht erlebte, bleibt das Geschehene mit ihrer Person verbunden und ihr Gesicht in meinem Gedächtnis.
Ich frage mich, was ich sie fragen würde, wenn ich nach dieser ereignisreichen Zeit mit ihr sprechen könnte ...